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Was bisher geschah
In der Hafenstadt Tharamant sind die Sorgen klein, und vielleicht überlegt Vherendie gerade deshalb, mit ihrem bisherigen Leben zu brechen. Als ihr Beinahe-Liebhaber Vedian sie vom Bahnhof abholt, eröffnet sie ihm, dass sie ihr Studium abbrechen wird. Und mit ihm macht sie auch Schluss – die Welt sollte ihr nun offen stehen.
Vedian kann darüber jedoch nicht lange nachdenken. Zwischen der Universität und Gesprächen mit Zeitungsreportern findet der Historiker keine Ruhe. Erst recht nicht, als am Himmel Luftschiffe auftauchen, die niemand erklären kann. Obwohl ganze Züge voller Menschen aus der Stadt fliehen, bleiben viele in Tharamant: Nur wenige können sich vorstellen, dass die sorgenfreien Tage bald enden.
Anders als Nesfalador, der in einem Gefängnis in der Stadt festsitzt. Er will etwas verhindern, das schon einmal an einem anderen Ort geschah. Doch niemand in Tharamant möchte ihm glauben, und nun muss er auf einen anderen Plan zurückgreifen.
Währenddessen riecht Ancardia ihren großen Durchbruch, als sie für die Zeitung über die Luftschiffe schreiben soll. Doch daraus wird nichts: Feuerbälle fallen auf Tharamant herab und zerstören die Stadt. Zuhause versteckt sich Ancardia mit ihrem Ehemann Dahales und den Nachbarn im Keller. Als dann der Heizungskessel des Hauses explodiert, überlebt sie es nur, weil Dahales ihr nie von seinen geheimen Kräften erzählt hat.
Vom Himmel über der Stadt steigt derweil das Flaggschiff eines siegessicheren Generals herab, den am Boden schlechte Neuigkeiten erwarten…
01: Verrat
Tharamant brannte, und am Himmel über der Stadt leuchteten grelle Feuerbälle wie fallende Meteore. Sie zogen dicke, schwarze Rauchwolken hinter sich her, lange Schweife, die im Wind zu grauen Wolken verschwammen. Unter ihnen floss der Staub der sterbenden Stadt wie ein Nebel durch die Straßen, und die Dächer Tharamants ragten wie kantige Inseln in den fahlen Himmel. Flammen peitschten flimmernde Schatten an die blassen Klippen, und wer in die Wolken über der Stadt sah, konnte weder Sonne noch Mond finden.
Am Rathausplatz sank das größte der starren Luftschiffe hinab. In seinen Flügeln, die wie bei einem Wal von seinen Seiten abstanden, rotierten wilde, laute Klingen. Sie schleuderten den Dreck des Platzes in die Luft, während das Schiff in der Mitte von fünf riesigen Bronzeplatten aufsetzte, die man wie an den Spitzen eines Sternes in das enge, helle Pflaster eingelassen hatte. Um den Landeplatz herum stapelten Soldaten Sandsäcke übereinander, bauten Zelte auf und montierten Schnellfeuergeschütze; sie legten Drahtfallen auf den Straßen aus und auf dem Dach der Büro- und Bankentürme schulterten sie Raketenrohre, durch deren Visiere sie die vernebelten Straßen absuchten.
Das Schiff öffnete die Rampe zum Laderaum. Aus dem Schatten von Lagerkisten und Gabelstaplern trat Scarve Bit heraus. Während viele seines Volkes körperlich schwach waren und weitaus schlankere Figuren zeigten, versteckte er unter seiner Rüstung starke, feste Arme und Beine, die hundert Jahre Bürgerkrieg gesehen hatten. Er war dadurch nicht größer als seine Landsleute, aber etwas breiter, und seine rubinrote Rüstung trug deshalb ein weiteres Maß. Über ihren glänzenden Platten, Nieten und Gelenken saß sein bleicher, völlig haarloser Kopf wie ein Ausrufezeichen: Einen Helm trug er nur dann, wenn es nötig war.
“Wer hat den Befehl gegeben? Niemand hat einen Befehl gegeben! Ich will sofort mit Cas sprechen!”, bellte er und sah in die Augen seiner Offiziere, die am Fuß der Rampe warteten. Mit leichten Schritten lief er hinunter und trat an einen Bildschirm, den die Soldaten zwischen den Barrikaden am Rathausplatz aufbauten. Er schubste einen Techniker aus dem Weg, nahm ein Kabel, das am Boden lag, und rammte es in die Rückseite des Schirms, während die Soldaten um ihn herum Kisten schleppten und Zeltplanen spannten. Der Bildschirm leuchtete auf und zeigte verschiedene, blaue Runen. Bit berührte sie und wartete ein paar Sekunden, dann flackerte das Bild von Eroberer Cas vor ihm. Er trug eine blaue Rüstung, doch sein Kopf war ebenso bleich wie der von Bit.
“Höchster Eroberer Bit”, flötete Cas. Seine Stimme knirschte und knackte durch die Lautsprecher. “Ich bin erfreut, Sie zu sehen. Sind Sie gut gelandet?”
“Was erlauben Sie sich?”, keifte Bit. “Niemand hat Ihnen den Befehl zum Feuern gegeben. Sie kannten das Vorgehen!”
Cas zog seine Mundwinkel nach unten und hob die Augenbrauen.
“Was erlauben Sie sich?!”, äffte er in den Bildschirm. Dann verengte er seine Augen und sprach weiter. “*Ich* habe den Befehl gegeben. Denn ich brauche *Ihren* Befehl nicht mehr. *Ich* bin der Eroberer von Tharamant, nicht Sie.”
“Das sieht der Weltenmeister anders”, zischte Bit. “Denn ich habe die Befehlsgewalt über die Armee. Nicht Sie. Und wenn Sie ihre Hand nicht vom Abzug nehmen können, dann sorge ich dafür, dass Sie sich vor ihm verantworten müssen!”
Cas sah ihn gelangweilt an und gähnte.
“Versuchen Sie das”, sprach er. “Ich habe den Befehl des Weltenmeisters, gegen Ihren Befehl zu handeln, weil er Ihnen nicht mehr vertraut und weil er ein wenig mehr Wumms sehen will, wenn Sie verstehen, was ich meine, was soll ich sagen, der Mann liebt halt Explosionen. Und ich fange an zu begreifen, warum.”
“Cas”, knurrte Bit und ballte seine Faust. “Lassen Sie die Witze. Wir sind hier, um einen Brückenkopf zu errichten und die Rote zu finden. Alle Spuren weisen daraufhin, dass sie hier gewesen ist. Wenn wir uns nicht beeilen und eine Versorgungslinie einrichten, dann kann sie sich in ganz Alâon verstecken.”
Cas sah sich um. Dann lächelte er ins Bild hinein.
“Ich weiß. Und es tut mir wirklich, wirklich Leid”, sagte er. Auf dem Bildschirm erschienen rote Buchstaben, Kästen und ganz viele Dreiecke. “Aber Sie können sehen, dass ich die Befehlsgewalt habe. Überlassen Sie mir Ihre Truppen, und dann brennen wir die Stadt nieder, finden die Rote und feiern unseren Sieg bei einem Wein in der Unendlichkeitshalle. Die Eingeborenen und ihre Hütten stehen uns nur im Wege.”
Mit weiten Augen starrte Bit auf den Bildschirm und biss die Zähne zusammen. Dort stand es, der offizielle Befehl: Der Weltenmeister hatte Cas zum Anführer erhoben. Doch das konnte nicht stimmen. Bit kannte den Weltenmeister zu gut und wusste, dass er ihn nicht verraten würde.
“Wie kann das sein?”, zischte Bit. Im Hintergrund krachte etwas. “Warum weiß ich davon nichts?”
“Was?”, rief Cas in den Bildschirm hinein. “Ich kann Sie nicht hören, weil meine Waffen so unglaublich viel Spaß machen. Mein Angebot steht. Wenn Sie sich meinen Truppen nicht ergeben, sehe ich Sie unter meinem Fuß. Cas Ende.”
Der Bildschirm verlor für ein paar Sekunden Licht und Farbe. Dann zeigte er eine Reihe roter Runen. Bit rammte seine Faust in den Bildschirm. Glas splitterte und Funken flogen, und Bit schrie auf. Dann drehte er sich um und rannte zum Luftschiff, stieg auf die Rampe hinauf und schrie noch einmal, damit ihn jeder hören konnte. Von hier aus konnten ihn seine Soldaten sehen, und sie unterbrachen ihre Arbeit.
“Hört zu, Männer!”, rief er. “Eroberer Cas hat uns verraten. Es ist anzunehmen, dass Eroberer Sim ebenfalls die Seiten gewechselt hat.”
Ein paar seiner Soldaten nahmen ihre Helme ab. Mehr und mehr Augen richteten sich auf Bit.
“Damit erhöht sich die Zahl der Feinde, die wir hier vortreffen”, rief er. “Ich weiß, dass einige von euch von einem Spaziergang sprachen; Suchen und Sichern, das war das Ziel. Dem ist nun nicht mehr so. Wir sind zurück im Bürgerkrieg – Bruder kämpft gegen Bruder.” Er machte eine Pause und sah über die Helme seiner Soldaten. Die Augen, die er sah, weiteten sich. “Schuld daran ist Eroberer Cas, und sein Verrat ist der eines Narren. Er kann nicht gewinnen, denn eine Niederlage unter meiner Führung ist nicht möglich.”
Er trat ein paar Schritte vor.
“Offiziere Drit, Khan, Jed und Ta kommen zu mir. Der Rest geht seinen Befehlen nach!”
Die Soldaten auf dem Platz salutierten und setzten ihre Arbeit fort. Bit stieg von der Rampe hinab und ging auf die vier genannten Offiziere zu. Mit seiner rechten Hand winkte er sie zum Kartentisch, den drei andere Soldaten gerade in das Kommandozelt trugen. Die Zeltplane zitterte, als zwei Mechaniker dicke Bolzen in das Steinpflaster schossen, um die tragenden Stangen am Boden zu befestigen.
“Wir müssen die Eingeborenen aus der Schusslinie schaffen”, rief Bit. “Tötet jeden, der aktiven Widerstand leistet, aber treibt den Rest auf den großen Plätzen der Stadt zusammen, vornehmlich am Bahnhof, Marktplatz und Universitätsgelände. Sie werden uns helfen, die Stadt zu befestigen, sobald wir Cas neutralisiert haben. Gebt sofort eine Warnung an die Luftschiffe durch, sich von den äußeren Stadtgebieten fernzuhalten. Cas hat dort seine Truppen. Setzt Sturmschrecken und Schreiter sowie Transportwagen hier, hier und hier ab.” Er zeigte auf die entsprechenden Punkte auf der Karte. “Außerdem sollen die Kontertruppen Maschinenfallen setzen, wo sie nur können – Drähte, Stacheln, Sperren, Minen. Wenn Cas Verluste erleidet, sollen die Truppen die Speichersteine der gefallenen Soldaten sicherstellen. Je weniger Soldaten er hat, desto besser.”
“Ich werde es sofort über Funk durchgeben”, bestätigte Jed.
Bit schüttelte den Kopf. “Nein”, sagte er. “Nicht über Funk. Cas kennt unsere Frequenzen. Innerhalb der Einheiten nur Mund zu Ohr. Kommunikation mit dem Hafen, dem Auge und zwischen den Einheiten muss mit einer niedrigstufigen Verschlüsselung geschehen. Die Techniker, vornehmlich Ingenieur Dhak, sollen sich umgehend darum kümmern. Wir haben keine Zeit zu verlieren; wir müssen die beiden oberen Klippen von Tharamant halten. Wenn Cas und Sim dort oben stehen und freie Sicht auf den Stadtkern haben, sitzen wir in der Falle.”
Jed nickte und verließ das Zelt.
“Ich möchte keinen Widerstand in der Stadt”, rief Bit. “Sichert den Platz – errichtet Barrikaden an allen Straßen, die zum Rathaus führen, und montiert stationäre Geschütze am Rand des Platzes, dort, dort und dort. Eine Sturmschrecke soll den Platz unterstützen, außerdem möchte ich einen Wagen mit Reinkarnationskammern hier haben. Die anderen lasst ihr mit den Eroberungszügen Zwei, Fünf, Sechs und Neun ziehen. Sie werden sie eventuell brauchen, wenn sie auf feindliche Truppen treffen. Ta?”
“Was ist, Eroberer Bit?”
“Sobald die Fahrzeuge eingetroffen sind, werde ich dir das Kommando über eine Gruppe Stahlschreiter geben.”
Ta hob eine Augenbraue.
“Du wirst mein zweites Paar Augen sein”, sprach Bit zu ihm. “Ich brauche jemanden, der feindliche Bewegungen erkennen kann, die das Auge über den Wolken nicht lesen möchte. Wir müssen unbedingt wissen, was Cas plant, und ob er Flugabwehrgeschütze dabei hat. Wenn nicht, dann können wir ihn aus der Luft bombardieren.”
“Wieso sollte er Flugabwehrgeschütze haben? Die Tharamantiner fliegen nicht.”
Bit wandte sich von ihm ab und sah zu, wie die Mechaniker ein Geschütz stationierten, mit dem sie schwer gepanzerte Fahrzeuge abwehren konnten. Er hatte nicht gedacht, dass er sie brauchen würde.
“Natürlich nicht. Aber wir tun es”, erklärte er. “Cas hat die Geschütze womöglich mitgebracht, um unsere Luftschiffe und vielleicht sogar das Auge vom Himmel zu holen.”
“Die Reichweite der Flugabwehr ist zu gering, um das Auge…” Ta stoppte mitten im Satz. “Soll das heißen, dass Cas schon vor Tagen geplant hat, was hier passieren würde?”
Bit ballte seine Faust und schlug auf den Tisch. Ta zuckte, verharrte für ein paar Sekunden und starrte auf die Risse, die sich von der Faust aus durch den Tisch zogen. Dann nickte er und verließ das Zelt.
02: Abstieg
Ancardia wischte die letzten Tränen aus ihren Augen und stieg hinab. Mit zitternden Armen kletterte sie durch das Loch, das der Gaskessel in den Boden gerissen hatte. Die reißenden Ströme der Kanalisation rauschten unter ihr, und irgendwo stand Dahales auf dem schmalen Steinpfad neben dem Abwasserstrom und wartete auf sie. Als er mit den Händen nach ihr griff, wich sie von ihm. Er schien zu begreifen, was der Blick bedeutete, den sie ihm aus ihren engen Augen zuwarf.
In der Dunkelheit atmete eine fremde Welt, voller Abfälle, Müll und Ratten. Nur die Kanalisationsarbeiter aus den Randgebieten der Stadt wussten, wie es hier aussah; nur sie kannten die Ströme aus Unrat, die an schleimigen, alten Steinen vorbeischwammen und fernab der Stadt ins Meer sprangen. Doch vielleicht war es der einzige Weg. Dahales hoffte, dass sie Tharamant unter der Erde verlassen konnten, ohne in die Schusslinie der Angreifer zu geraten.
“Glaub’ mir… je weiter unten wir sind, desto sicherer sind wir”, erklärte er.
Nein, sie wollte nicht so recht an seine Worte glauben. Der Geruch des Abwassers schlug ihr ins Gesicht. Sie drehte ihren Kopf zur Seite und hielt die Luft an.
“Ich geh’ da nicht durch, Dahales”, würgte sie hervor. “Tod auf den Straßen ist besser als das da!”
“Komm’ schon. Das meinst du nicht so.”
“Doch. Das meine ich so. Ich will es lieber auf den Straßen versuchen. Wenn mich ein Feuerball zerfetzt, dann muss ich mich vorher wenigstens nicht übergeben.”
“Halt’ einfach die Luft an. Oder atme durch den Mund.”
“Als ob das besser wäre”, brummte sie. “Die Chancen da oben stehen schlecht, ich weiß. Aber wenn wir da runtergehen, sterben wir bestimmt an irgendeiner Krankheit, die wir uns in den Abwässern einfangen. Nein. Ich klettere wieder nach oben.”
Ancardia streckte sich und fasste mit ihren Fingern an die raue Steinkante, die aus dem Rand des Lochs herauswuchs. Mit ihren Füßen tastete sie nach Steinen und Vorsprüngen, auf die sie steigen konnte. Noch immer spürte sie den Sturz in ihrem Bein, und überall kniff und juckte es, besonders an den Stellen, an denen sie auf die Straße geschlagen war. Sie war sich sicher, dass sie überall blaue Flecken tragen musste, doch sie wollte nicht nachsehen. Außerdem war es viel zu dunkel. Das Licht hier unten reichte gerade, um den Fuß auf den richtigen Untergrund zu setzen.
“Komm’ schon”, sagte Dahales hinter ihr, und als sie sich umdrehte, glaubte sie, ihn in der Dunkelheit lächeln zu sehen. Es machte sie wütend, doch bevor sie ihn beschimpfen konnte, fuhr er fort: “Die Kanalisation führt in einigen Tunneln aus der Stadt hinaus. Wir müssen nur dem Lauf des Wassers folgen, dann sind wir am Hafen, und mit Glück kommen wir in einen Tunnel, der im Norden aus der Stadt führt. So schwierig kann das nicht sein, wenn das sogar die Kanalarbeiter schaffen.”
Sie wiegte den Kopf unwillig hin- und her.
“Wenn ich an einer Vergiftung sterben sollte, dann mache ich dich kalt”, knurrte sie. “Aus dem Jenseits heraus. Und wenn ich das nicht schaffe, suche ich dich als Geist heim. Jede einzelne Nacht.”
“Geht klar”, erwiderte Dahales und zog seine Hand wieder weg. “Warte eben eine Sekunde. Einen Moment nur.”
Sie hörte, wie Dahales in seinem Rucksack wühlte. Dann blitzte plötzlich ein helles Licht in der Dunkelheit auf, und ein wenig später erkannte sie, was da brannte und flackerte: Dahales hielt eine Fackel in der Hand.
Ein warmes, unruhiges Licht legte sich auf die nassen Wände, den Pfad und den rauschenden Abwasserstrom. Als Kind hatte Ancardia einmal ein Bild der Kanalisation gesehen, über die auch in ihrer Heimat niemand gerne sprach. Das Bild strahlte hell und sauber in ihrer Erinnerung, so wie die Fassaden von Tharamant – saubere Ziegel saßen punktgenau übereinander, und kein Staubkorn mochte sie verschmutzen. Doch das, was sie hier sah, war das genaue Gegenteil. Faustgroße Käfer flüchteten vor dem Licht der Fackel und langbeinige Spinnen starrten die beiden fremden Besucher aus viel zu vielen Augen an. Über die glitschigen Wände der gebogenen Tunnel wuchsen blasse Pflanzen mit bleichen Farnblättern. Auf den dicken Rohren, die das Abwasser aus den Häusern über ihnen abführten, wucherten schwabbelige Pilze. Moos quetschte sich in die Rillen zwischen den Steinen.
Ancardia schauderte. Das alles lag nicht einmal zehn Meter unter dem, was einmal ihre Wohnung gewesen war.
“Siehst du, da ist ein Weg”, rief ihr Dahales zu und deutete auf den dünnen Weg, der am Rand des Abwassers saß. Seine Stimme hallte durch den Tunnel. “Am Rand, siehst du? Es ist schmal, aber wir können darauf gehen, wenn wir uns an die Wand pressen.”
Erneut lief ihr ein Schauer über den Rücken.
“An die Wand pressen”, zischte sie. “Denn warum nicht. Wer weiß, vielleicht beißt mich dann ein Tausendfüßler, wenn ich das nächste mal in meinen Rucksack fasse. Einer von den roten, mit den schwarzen Streifen auf dem Rücken.”
“Komm’ schon”, sagte Dahales. “Sei kein Mädchen.”
“Was soll das denn heißen?”, keifte sie. “Die Wand stinkt. Tharamant brennt. Unsere Nachbarn sind tot. Ich bin vom Pferd gefallen. Mein Ehemann kann mich versehentlich töten, wenn er nicht aufpasst. Verzeih’ mir, dass mir das etwas nahe geht.”
“Ancardia”, sagte Dahales. Sie konnte nicht hören, ob er sie beruhigen wollte oder genervt war. Oder beides. “Ich verspreche dir, dass wir darüber reden, wenn wir aus der Stadt sind. Glaub’ mir, ich ekel’ mich auch. Aber noch mehr ekel’ ich mich vor dem Abwasser. Lieber die Wand als schwimmen gehen, denk’ ich mir. So eng ist es nun auch wieder nicht, und ich bin sicher, dass du das schaffst.”
Sie band ihre Locken hinter dem Kopf zusammen und schnaufte. Immer wieder bebte der Boden. Dumpfer Donner drang in die Kanalisation und flüsterte ihr zu, dass die Welt unter Tage die bessere Wahl sei.
“Gut, dann gehen wir es an”, sprach sie. “Ich hoffe trotzdem, dass wir bald wieder hier verschwinden können.”
“Das tu’ ich auch, glaub’ mir.”
Während sie hinter Dahales an der Tunnelwand entlang schlich, fiel ihr Blick auf den Abwasserstrom. Sie konnte sehen, wie die Strömung verwesende Tiere trug, Ratten, Mäuse, Käfer, Larven, kopfgroße Aasmaden und allerlei Viecher, deren Spezies sie nicht erkennen konnte. Dem Gestank nach mussten sie schon lange tot sein; er kam und ging mit den Wellen, die aus dem Kanal über den schmalen Seitenpfad schwappten. Ancardia hielt die Luft an und spürte, wie ihr Herz klopfte. Als sie an die gegenüberliegende Wand sah, konnte sie den Schatten einer Spinne im Licht der Fackel erkennen. Mit ihren fingerlangen Beinen fischte sie eine tote Ratte aus dem Wasser.
Ancardia sah zur Seite und versuchte, an ihr Arbeitszimmer in der Redaktion zu denken – an die Schreibmaschine, an Buchstaben, Wörter, Sätze und Seiten, Papier und Tinte. Und an Kirelli, der diesen Angriff vielleicht nicht überlebt hatte. Oder doch. Sie wusste es nicht, er war schon so alt. Mit geschlossenen Augen schlich sie weiter und schrieb. Kriegsgebiet Tharamant, Aufruhr am Stadttor, mit Hinkebein durch eine fallende Stadt. Lebensformen unter der Tharamant. Die Zeitung mit diesem Artikel hätte reißenden Absatz gefunden, wie alle Zeitungen, für die sie in ihrem Kopf schrieb. Doch niemand sollte es je lesen. Es gab keine Druckerpressen mehr, keine Redaktionen, keine Leser, keine Tagträume.
Sie duckte sich unter einem gewölbten Durchgang hindurch. Als ihr dabei ein paar Moose von der Decke entgegenfielen, musste sie würgen und hielt den Arm vor ihr Gesicht. Der Tunnel weitete sich hier und der Pfad wuchs so breit, dass sie ihren Rücken nicht mehr an die Wand drücken musste. Dann zitterte der Boden. Eine schmutzige Welle schwappte über den Pfad und stieg bis zu Ancardias Knöcheln hoch. Sie taumelte und krallte ihre Finger in die feuchten Moose an der Wand, um nicht in die Abwässer zu fallen. Vor ihr zuckte die Fackel durch die Dunkelheit und sie sah, wie Dahales beinahe umfiel, sich aber an der Wand festhalten konnte, bevor er in den Abwasserstrom stürzte.
“So, wir sind also sicher hier?”, rief Ancardia ihm zu. Sie ließ von der Wand los und versuchte, die Hand an ihrer Hose abzuwischen. Irgendwas blieb kleben, aber sie konnte nicht erkennen, was es war. Dahales starrte sie an, und jetzt konnte sie es sehen: Sie nervte ihn.
“Nein, mir ist nichts passiert”, brummte er. “Danke für deine Sorge.”
Dahales drehte sich um. Ancardia folgte ihm. Die Tunnel waren hunderte von Jahren alt, und jede Generation hatte ihre eigenen Abschnitte repariert und die Kanalisation erweitert – fast wie in der Stadt über ihnen, doch hier unten sah niemand nach, ob es denn auch ins Stadtbild passte. An einigen Stellen glaubte Ancardia, dass eine dünne Schicht aus Schneckenschleim auf dem Weg klebte; an anderen hörte sie Sand unter ihren Sohlen knirschen, und später schienen sich ihre Stiefel im Matsch festsaugen zu wollen. Die Steinplatten des Gehwegs ragten manchmal unterschiedlich weit aus dem Boden heraus und hoben ihre abgeschürften Ecken über die anderen Platten, als ob sie diese übertrumpfen wollten. An den Wänden entlang führten Rohre, und wenn kein Pilz sie bedeckte, dann tat das der Rost. Eins der Rohre hatte ein Loch, auf das jemand eine grob geschnittene Eisenplatte genagelt hatte. Dreckige Tränen tropften an der Unterseite hervor.
Ancardia ging weiter, schwieg und dachte an Dinge, die weit zurücklagen. Der Weg wechselte zwischen breit und schmal, die Decke zwischen hoch und niedrig. Aus runden Auslässen an der Wand stürzte Abfallwasser wie ein Wasserfall in den Hauptstrom. Obwohl sie sich duckte, spürte Ancardia kleine, kalte Spritzer auf ihrer Haut, und plötzlich begriff sie, wieso Kanalarbeiter kein hohes Alter erreichten.
Die Luft brummte. Ancardias Blick fiel auf viele kleine Punkte, die im Licht der Fackel schwärmten.
“Fliegen”, murmelte sie. “Kadaverfliegen.”
Ein ganzer Schwarm der Aasfresser hauste in diesem Segment des Tunnels. Als sie ihren Blick in Richtung Wasser lenkte, sah sie den Grund: Tote Menschen verstopften den Abwasserfluss. Sie hielt ihre Hand vor den Mund.
“Ist das widerlich…”, sprach Dahales und schüttelte den Kopf. Er deutete auf einen Körper in dem Haufen aus Kleiderresten, Fleisch und Knochen. Weiße Punkte wanden sich auf ihm. “Sieh’ dir das an. Die Leichen müssen mehrere Tage alt sein. Die Fliegen bauen ihre Nester in ihnen.”
“Wie kann das denn sein? Wie kommen diese Menschen denn hier her?”, fragte sie. “Und warum sind es so viele…?”
Er blickte sie an.
“Im Ernst?”, erwiderte er. “Du weißt es nicht? Das ganze ist doch ein offenes Geheimnis.”
“Oder ein Städtemärchen, wenn es das ist, was ich denke, was du meinst”, murmelte sie und dachte ein paar Sekunden nach. Dann schüttelte sie den Kopf.
“Nein, nein”, sagte sie. “Niemand in Tharamant wirft Bettler in die Kanalisation. Nein, Dahales. Der Aufschrei wäre zu groß. Ich verstehe ja, dass man die Stadt und das Bild Tharamants in der Welt sauber halten möchte. Damit ist viel Prestige verbunden. Aber das ist absurd. Auf dem ganzen Kontinent macht man Witze darüber, aber deshalb muss das nicht wahr sein. Selbst für Tharamant wäre das zu viel. Immerhin sind das Menschen.”
“Ich habe nie geglaubt, dass unsere Stadt so wenige Bettler hat”, erwiderte er. “Aber ich habe auch nie geglaubt, dass dies so zustande kommt. Jetzt sehe ich die Beweise.”
Ancardia lachte kurz und trocken auf.
“Beweise? Ja. Wie du sagtest: Für ein ‘offenes Geheimnis’. Nichts davon hier ist ein Beweis – manch ein Bestatter wirft seine Toten in die Kanalisation, und vom organisierten Verbrechen und politischen Ränkespielen müssen wir gar nicht erst reden.”
Dahales schüttelte den Kopf.
“Glaub’ du, was du willst”, sagte er. “Ich gaub’, was ich sehe.”
Ancardia verdrehte die Augen und folgte ihm durch den Schwarm. Sie wagte es nicht, durch den Mund zu atmen, doch der Gestank brachte sie an den Rand ihrer Ausdauer. Während sie die Fliegen mit der flachen Hand zur Seite schlug, spürte sie den Drang, Dahales anzubrüllen und ihm ihre Fäuste in seinen dicken Bauch zu rammen. Sie wusste, dass er lediglich versuchte, das Beste aus ihrem Unglück zu machen, und immerhin waren sie noch am Leben und zusammen, und sie hatten ein Ziel, und am Ende des Tunnels strahlte ein blasses Licht. Doch sie war am Ende ihrer Kräfte; ihr Bein schmerzte noch stärker als vor ihrem Abstieg, und der Gestank wollte nicht verfliegen. Sie sehnte sich nach einer Dusche und nach einem Glas Wein gegen den Schmerz, und nach frischer Luft.
Zumindest einer ihrer Wünsche sollte sich bald erfüllen – frische Luft. An einer Kreuzung trafen sich drei Abwasserbäche. Licht fiel durch ein aufgesprengtes Loch von der Decke hinein, und eine Brise drang in die Kanalisation, als ob der Wind persönlich Ancardia erfrischen wollte. Sie atmete tief ein.
“Eine Gabelung!”, rief Dahales aus. “Und Luft! Endlich. Wir sollten einen Moment hier warten und verschnaufen.”
“Nein, so schnell wie möglich hier raus”, knurrte sie. “Wir können da hinten an der Wand hochklettern.”
“Warte doch einen Moment. Wir müssen hier dem Lauf des Wassers folg-“
Weiter kam Dahales nicht. Der Wasserspiegel im Mittellauf der Gabelung sackte plötzlich um einige Zentimeter nach unten. Der Boden zitterte und aus der Decke lösten sich Steine. Dahales verlor den Halt und fiel vornüber, Ancardia schrie, rutschte aus und fiel ihm hinterher. Im freien Fall brach sie durch den Boden. Wasser stürzte über ihren Kopf, und ein Stein fiel auf ihren Rücken, riss dort ein Stück Stoff ab und schnitt in ihre Haut. Etwas bohrte sich in ihre Hüfte und knackte wie ein Stück trockenes Holz. Als ihr Sturz zu Ende war, lag sie neben Dahales, auf tausenden von Knochen. Über ihnen ergoss sich ein Wasserfall aus Unrat. Ancardia schnappte nach Luft.
03: Erinnerung
Vherendie trug die hohen Stiefel, die nicht den Halt finden wollten, den ihre Trägerin brauchte. Wenn sie um eine Ecke in die nächste Gasse rannte, verlor sie beinahe das Gleichgewicht, und der Rucksack auf ihrem Rücken schwang hin- und her, als ob er sich von ihrem Rücken reißen und seinen eigenen Fluchtweg finden wollte. Unter den rutschigen Tragegurten klebte der Schweiß ihr dünnes, schwarzgraues Sommerhemd fest an ihre Haut. Sie würde es später auswringen können, wie ein Schwimmkleid.
“Vedian!”, rief sie, doch sie konnte ihre eigene Stimme im Lärm nicht hören. Ihre Brille tanzte auf ihrer Nase. Donner stürzte aus den Wolken und Stürme schleiften durch die Straßen, Maschinen kreischten und Flammen lachten. Die Gassen und Straßen waren zu breit und viel zu leer – wie die Bühne eines Schießstandes.
“Vedian! Ich kann nicht mehr!” Kälte kroch ihren nassen Rücken hinauf. Sie spürte, wie der Staub in ihren Hals griff und der Luft nur ein kleines Fenster ließ, durch das sie in die Lunge steigen konnte. Vedian rannnte weiter und drohte mit den anderen Schatten im braungrauen Nebel zu verschwinden.
“Das Nordtor ist nur ein paar Straßen entfernt!”, rief er, oder vielleicht war es auch etwas anderes. Seine Stimme schien auf halbem Wege zu verschwinden. Vherendie hustete, stöhnte auf und biss die Zähne zusammen. Ihr Herz klopfte und die Muskeln in ihren Beinen brannten, wie sie noch nie in ihrem Leben gebrannt hatten. Selbst ihre Arme wogen schwer, und spitze Stiche bohrten sich durch ihre Schultern. Im Nebel vor ihr sah sie die Schatten von Menschen, die aus der Straße nach Westen über eine Kreuzung rannten. Einige von ihnen blickten sich um, wie auf der Flucht vor einem großen Raubtier. Dann klangen Schüsse aus einer anderen Richtung. Die dreckigen, weiten Gewänder der Stadtwache flatterten über die Kreuzung, und ihre Gewehre feuerten auf etwas, das größer als ein Mensch sein musste.
Plötzlich erschien Vedian vor ihr. Vherendies Herz zitterte.
“Ich denke, wir sollten umdrehen”, rief er und sah sie mit starren, leeren Augen an. Seine Stimme verschwand im Lärm.
“Bitte, Vedian, ich kann einfach nicht mehr!”, keuchte sie und schnappte nach Luft. Vedian ging zu ihr, klopfte ihr auf die nasse Schulter und schob seinen Arm unter ihren. Als er nach ihrer Hand griff, packte sie fest zu.
“Dann gehen wir zusammen. Wir müssen hier weg.”
Sie sah über ihre Schulter. Hinter ihr schoss, schrie und starb die Stadtwache. Schwere Metallschläge krachten wie Hämmer auf das Straßenpflaster, und etwas brummte wie die glänzenden Luftschiffe, die noch immer dicht über die Häuser zogen und zwischen den Dächern auf der Straße aufsetzten.
Mit schweren Schritten stolperten Vherendie und Vedian in die Gasse zwischen der weißen Wand einer Bäckerei und dem Ziegelbau eines Restaurants. Ein staubiges Loch, aus dem einzelne Steine und Balken wie die Knochen aus einem offenen Bruch hervorstanden, prangte in beiden Wänden; und aus dem rechten Loch erbrach sich ein Schwall aus Brötchen, Mehl und matschigem Teig.
Vherendie blieb stehen, hustete und stützte sich auf ihren Knien ab. Der Boden vor ihren Augen drehte sich, und an den Rändern ihrer Sicht sah sie kleine, bunte Punkte tanzen. Mit ihrer rechten Hand nahm sie ihre Brille ab und wischte sich mit der anderen durch die Augen, schloss sie für ein paar Sekunden und lehnte sich mit ihren Rücken an die Wand.
“Hast du irgendwas?”, fragte Vedian.
“Natürlich nicht”, zischte sie. “Ich huste nur, weil es mir Spaß macht!”
Sie sah, wie er die Augen verdrehte und sich von ihr abwandte.
“Und ich weiß immer noch nicht, was hier los ist”, keuchte sie. “Vedian, was passiert hier?”
“Ich weiß nicht viel mehr als du”, antwortete er. Sie war sich nicht sicher, ob er ihr wirklich antworten wollte. “Nur das, was von Trinitas mir erzählt hat. Und ich weiß immer noch nicht, was du an der Universität wolltest. Hattest du nicht vor, aufzuhören?”
Sie schnaufte und stand auf. Ihr Rucksack wog schwer auf ihrem Rücken. Sie holte eine Flasche Wasser heraus, zog den Korken und nahm einen Schluck. Dann noch einen. Und dann noch einen. Vedian sah sich nervös um – am anderen Ende der Gasse jagten Schatten durch den Nebel.
“Vherendie, wir müssen hier weg. Wir sind hier nicht sicher.”
Vherendie hob ihren Finger vor sein Gesicht und zog weiteres Wasser aus der Flasche, um den Staub aus ihrem Hals zu waschen. Dann steckte sie den Korken zurück in die Flasche und warf den Rucksack auf ihren Rücken.
“Weiter geht’s”, sagte sie und holte tief Luft. “Lass’ uns ein Versteck finden, bis dieser Wahnsinn da draußen vorbei ist.”
Vedian nickte, ging voraus und rüttelte an jedem Türknauf, an dem er vorbeikam. Etwas weiter in der Gasse gab eine Tür nach, und Vedian lehnte sich gegen sie, um sie zu öffnen. Vherendie folgte ihm, trat auf die knarzende Schwelle und sah sich um: Sie stand in einer Küche. In der Mitte ruhte eine quadratische Kochstelle, über der ein Grillgitter an dicken, schwarzen Ketten von der Decke hing. Löffel, Kellen, Zangen und Messer ruhten an Haken, die in den Wänden steckten, während sich in einem Spülbecken Pfannen und Töpfe stapelten. Durch eine Tür konnte Vherendie einen geschmückten, dunklen Raum sehen, in dem Stühle, Bänke und Tische auf bunten Teppichen standen.
Plötzlich fiel es ihr ein.
“Kinta Grillhaus”, murmelte sie mit weiten Augen. “Vedian, wir sind *sowas* von weit weg vom Nordtor.”
“Ich weiß”, sagte er leise und sah sie an. “Wollte dir nur Mut machen.”
Sie nickte und starrte in den Gästeraum. Hier hatte sie mit ihren Eltern gesessen, an dem Tag, an dem ihr Vater seinen ersten Arbeitsplatz in Tharamant erhielt. Sie hatte gegessen, als ob es die erste und letzte Mahlzeit ihres Lebens war, und sie konnte sich daran erinnern, dass sie in diesem Moment beschlossen hatte, nie wieder hungern zu wollen.
Vherendie war erst als junges Mädchen in die Stadt gekommen. Vorher hatte sie mit ihren Eltern in Masadrav gelebt, dem Land der Dünen, Erzstollen und Sandwürmer, weit im fernen Osten des Kontinents. Nach einem Bürgerkrieg regierten hier Hunger und Hass, und deshalb buchten Vherendies Eltern eine Fahrt zur Halbinsel Artasien. Das überfüllte Boot kenterte fast in einem Sturm, und ob es alle überlebten, wusste Vherendie nicht mehr. Aber sie konnte sich daran erinnern, dass sie an der Küste von Artasien landeten, nahe dem Ort Sintato, in dem man Raketen für Feuerwerke baute. Hier stopfte man sie in einen Zug nach Kinta, und von hier aus fuhren sie nach Gadagor, und von dort aus nach Diamant, und schließlich nach Tharamant. Hier stellte niemand Fragen, und so konnte ihr Vater schon nach wenigen Tagen in einer Fabrik für Maschinenteile anfangen. Ihre Mutter fand eine Stelle als Sekretärin in einer Bank, und Vherendie blühte in der Schule auf. Doch über Masadrav sprach die Familie selten, und auch Vherendie wusste nicht viel über das Land, aus dem sie stammte. Damit war sie in Tharamant nicht allein: Forscher aus Gadagor, Artasien, Efortem oder dem Dreibund interessierten sich eher für ihr eigenes Umfeld, und abseits von einigen Siedlungen, Dörfern und Städten war Masadrav ein großer weißer Fleck auf Alâons Landkarte. Das Interesse an dem fernen Land galt allenfalls der fremdländischen Exotik, die man einer Tänzerin oder vielleicht einem Restaurant aufsetzen konnte, damit die reichen Tharamantiner wenigstens beim Essen einen Hauch von Welt verspürten.
“Geht es dir besser?”, fragte Vedian.
Vherendie nickte. Der Husten hatte nachgelassen, doch er kratzte noch immer an den Innenwänden ihres Halses. Draußen tobten dumpfe Gewehre, Maschinen und Feuer.
“Sieh’ dir das nur an”, sagte sie. “Alles verlassen. Vor wie vielen Jahren saß ich hier? Ich war ein Kind. Und ich erkenne es immer noch.”
Vherendie nahm den Rucksack von ihren Schultern und setzte sich auf den Boden. Mit dem Rücken lehnte sie sich an die Ziegel der Kochstelle. Sie zog ihre Beine zu sich heran, als ob sie sich so klein wie möglich, beinahe unsichtbar machen wollte.
“Und morgen ist es vielleicht weg”, murmelte sie mit leiser Stimme.
“Ich weiß nicht, ob ich das kann”, sprach Vedian und ging ein paar Schritte auf die Tür zu, dann wieder zurück zu ihr. “Ich bin darauf nicht vorbereitet gewesen. Ich… oh nein. Oh nein, oh nein oh nein.”
Er schüttelte den Kopf.
“Ich habe ihn dort liegen gelassen. Er hat mich um Hilfe gebeten. Er brauchte mich”, murmelte er. “Und ich bin verschwunden.”
“Ich auch”, sagte sie und sah zu Boden. Bilder tauchten vor ihr auf – Steinbrocken, zertrümmerte, blutige Knochen. “Ich auch. Und da draußen sind noch mehr Menschen, die Hilfe brauchen.”
Er kam zu ihr und setzte sich gegenüber von ihr auf den Boden. Seine Augen standen weit offen, und auf ihnen lag ein schwacher, trauriger Glanz. Er atmete schwer, und seine Stirn glänzte feucht.
“Kanntest du ihn?”, fragte sie. Er nickte.
“Professor für Mathematik”, antwortete Vedian. “Mit einer Leber aus Stahl. Ich weiß nicht mehr viel von dem Abend, aber ich glaube, dass wir uns gut verstanden haben. Weil er auch über andere Dinge als sein Fachgebiet sprechen mochte.”
Vherendie hob eine Augenbraue.
“Und er ist damit klar gekommen, dass du das nicht kannst?”
Vedian blickte sie aus leeren Augen an. Die Spannung schien aus all seinen Muskeln gewichen zu sein. Er atmete flach, als ob er nur das nötigste an Luft in seine Lunge lassen wollte, oder konnte.
“Tut mir Leid”, murmelte sie. “Ich wusste nicht-“
“Warum warst du heute da?”, fragte er.
Vherendie blickte zur Seite, dann zum Boden. Plötzlich schien die Stadt zu schweigen, als ob ganz Tharamant eine Antwort erwartete. Sie lehnte sich nach vorne, öffnete ihren Rucksack und holte ein Blatt Papier hervor, dass sie zu einem Ball zerknüllt hatte. Sie warf es Vedian zu, der es auffing und vorsichtig öffnete. Das Papier war hart und fest.
“Antrag auf Exmatrikulation”, las er vor. “Datiert auf gestern. Unterschrieben von Vherendie Sela.”
Sie nickte.
“Ich war gestern da. Und heute. Ich habe es nicht geschafft, die Tür zum Sekretariat zu öffnen. Ich konnte diesen Schritt nicht gehen, so sehr ich auch wusste, dass es die richtige Entscheidung sein musste.”
“Spielt auch keine Rolle mehr”, sagte Vedian und warf das Papier zur Seite. “Die Universität gibt es nicht mehr, und selbst wenn wir einen Weg aus diesem Durcheinander finden, wird es Jahre dauern, sie wieder aufzubauen.”
Sie schwiegen, und Vherendie überlegte, ob sie überhaupt wollte, was Vedian vorschlug. Draußen toste erneut der Sturm, doch er war weit weg. Sie hörte etwas Schweres durch die Straßen von Tharamant stampfen, etwas, das die Größe einer Kutsche oder sogar einer Straßenbahn übersteigen musste.
“Ich gebe es offen zu”, sprach er. “Ich habe Angst. Ich habe Todesangst. Du hast gesehen, was auf dem Platz passiert ist… Ich will nicht, dass das uns beiden passiert. Wir sollten die Stadt verlassen, so schnell wie möglich.”
“Ja, das sollten wir”, sagte sie und nickte langsam, ohne ihn anzusehen. “Wir sollten die Stadt verlassen. Aber nicht alleine.”
“Du bist nicht alleine. Wir sind zu zweit.”
“Nicht jeder ist so ungebunden wie du”, brummte sie. “Ich muss meine Eltern finden. Sonst kann ich Tharamant nicht den Rücken kehren.”
Sie spielte an dem kleinen Jadefalken, der an der Kette um ihren Hals hing. Vedian runzelte die Stirn.
“Vherendie, deine Eltern wohnen am anderen Ende der Stadt”, sagte er. “Wir sind hier auf einem guten Weg.”
“Ich werde mir mein Leben lang Vorwürfe machen, wenn ich es nicht tue”, antwortete sie und war überrascht, wie viel Stärke sie wieder in ihrer Stimme spürte. “Du musst nicht mitkommen.”
Sie blickte ihn an und konnte erkennen, welche Welten er in seinem Kopf bewegte. Ängste huschten durch seine Augen, dann blickte er zur Seite, dann wieder zu ihr. Er holte tief Luft.
“Das ist dumm”, sagte er und schüttelte den Kopf. Er hustete, kurz und trocken. “Das ist so dumm. Aber… Ich weiß, was du meinst. Ich will nicht ohne dich fliehen, weil ich mir dann immer Vorwürfe machen würde, weil ich die wichtigste Person in meinem Leben in einer brennenden Stadt gelassen habe. Wenn ich es alleine überhaupt schaffen sollte.”
Vherendie nickte, stand auf und blickte ein letztes Mal durch die Tür in den Gästeraum, der an die Küche anschloss. Dann stieg sie über die Schwelle nach draußen. Vedian folgte ihr in die Gasse, aus der sie gekommen waren.
“Es ist dumm”, sagte sie und sah sich um. “Aber es ist das, was ich tun muss. Danke, dass du das verstehst.”
Grauer Dunst färbte den Himmel über der Stadt. Wann immer die Geschosse der Angreifer fielen, blitzte er auf. Vherendie fühlte sich, als ob jemand sämtliche Farben aus der Stadt gesogen hätte; sogar das Blut, das unter den Leichen hervorsickerte, trocknete so farblos wie der Staub in der Luft. Auf dem Straßenpflaster und am Rand ruhten tote Menschen, und die meisten trugen die weißen Gewänder und glänzenden Rüstungen der Stadtwachen. Vherendie sah nur wenige zivile Opfer. An der Universität hatte es mehr von ihnen gegeben.
Als sie an einer Kurve abbogen, kamen sie einem anderen Gasthaus vorbei. Es lag unter seinen eigenen Überresten begraben. Die Fenster zur Straße waren zersplittert, das Dach stand offen und Stühle und Tische lagen durcheinander. Mit weiten Augen trat sie auf eine zerfetzte Speisekarte, auf der dünne, schwarze Buchstaben mit ihren Schweifen viel zu hohe Preise zeichneten. Neben ihren Füßen gähnte ein Loch im Boden, das den Blick auf die Rohrleitungen unter dem Bürgersteig erlaubte, und auf der Straße hatte ein Krater die Straßenbahnschienen unterbrochen und die losen Enden gen Himmel gebogen. Im Nebel entdeckte Vherendie den Schatten eines Bahnwaggons, den jemand – oder etwas – von den Schienen geschleudert hatte.
“An all diesen Dingen haben mal Menschen gearbeitet”, murmelte Vherendie. “Ich kenne diese Straße, all diese Häuser und Händler und Gasthäuser, aber sie sehen nicht mehr aus wie das, was ich kenne.”
“Was meinst du?” fragte Vedian und sah über seine Schulter.
Langsam ging sie auf den gestürzten Bahnwaggon zu und bückte sich. Neben dem Radkasten lag ein kleines Uhrwerk, das aus dem Kasten gefallen war, und als sie an einer der Spulen drehte, sah sie, wie die Zahnräder ineinandergriffen.
“Dies hier”, sagte sie und zeigte es Vedian. “An Maschinen wie diesen hat mein Vater vor Jahren gearbeitet. Stunde um Stunde; ebenso, wie die Künstler und Graveure an den Wänden der Häuser gearbeitet haben, die nun nicht mehr stehen.”
Sie drehte das Maschinenteil in ihrer Hand und beobachtete, wie sich der fahle Himmel in ihm spiegelte. Dann legte sie es wieder in den Staub und folgte Vedian durch den Nebel. Sie sah immer wieder Häuser, an die sie sich erinnern konnte: Ein Antiquariat gegenüber einer Leihbibliothek, daneben das schmale Geschäft einer Weberin, die ihre eigenen Schals verkaufte (nur Schals, keine Mützen, wie ein Schild an der Front anmerkte). Auf der anderen Straßenseite hing das zerschlagene Schaufenster eines großen Kleiderladens. Vor Jahren hatte sie hier eine Tasche gekauft, die sie später in der Straßenbahn vergaß – mitsamt den Büchern, die sie aus der Bibliothek entliehen hatte. Im Grundriss eines ehemaligen Händlers für edle Herrenschuhe stand nur noch der verkohlte Überrest eines Verkaufstisches. Das Nachbargebäude war unversehrt; in seinem Vorgarten strahlte sogar ein Apfelbaum, an dem rote Äpfel schaukelten.
Schweigend sah Vherendie sich um. Es war ruhig hier. Aus der Ferne klangen gedämpfte Schüsse, Schreie existierten nicht mehr. Der Wind rauschte über die offenen Dächer und durch hohle Häuser. Er trug einen hohen Klang mit sich, der lauter wurde, bis sie dachte, dass jemand mit riesigen Eisenstangen auf das Pflaster schlagen würde.
“Hörst du das auch?”, fragte Vedian und blieb stehen. Sie lauschte. Ihr Herz zitterte.
Plötzlich sprang wenige Meter vor ihr eine Häuserwand auseinander. Ziegelsteine zersplitterten und flogen über den Boden, Putz wehte durch die Luft. Vherendie schrie auf, duckte sich und riss die Arme vor ihr Gesicht. Sie hustete kurz und öffnete die Augen.
Ein dünner Metallfuß stieg durch den Nebel. Er zog eine Maschine hinter sich her, die auf sechs starren Beinen durch die Ruine kletterte und Wände auf beiden Seiten zu Boden stieß. Putz- und Steinströme fielen wie trockene Wasserfälle von ihrem mondlichtsilbernen Körper herab, und auf ihrem Rücken standen zwei Menschen in hellen Rüstungen hinter aufmontierten Waffen. Vherendie zitterte und suchte nach Vedians Hand, während die Maschine wie eine übergroße Heuschrecke aus Metall in die Straße stieg. Zwischen ihren Gelenken sah Vherendie Stoffe, die sie nicht verstand, aber sie wusste eins: Vor ihr stand eine Bestie ohne Leben und ohne Seele, größer als ein Straßenbahnwagen, mit kräftigen Beinen, die ohne Probleme durch eine dicke Häuserwand stechen konnten.
Direkt vor Vherendie und Vedian blieb sie stehen und richtete eine mehrläufige Kanone auf die beiden.
04: Raucherpause
Nesfalador sah über die Stadt. An den Klippen verglühten Schachtelhäuser im Feuer, und die steinernen Brücken und Wege zwischen ihnen bröckelten auf die heulende Stadt hinab. Glänzende Donnerwale schwebten dicht über den zersprungenen Dächern und landeten auf den Plätzen und Straßen der Stadt; so, wie sie es seit Jahren in seinen Albträumen taten.
Er saß auf dem Dach einer verlassenen Villa, mit überschlagenen Beinen. Sein Kinn ruhte auf seiner Hand, und sein Blick auf dem Rauch, den Flammen und den Luftschiffen: Er war zu spät gekommen. Gähnend kratzte er mit seinen scharfen Fingernägeln über die Bartstoppeln an seinem Hals. Dann öffnete er den Rucksack, den er im Kerkergebäude gefunden hatte. Die Stadtwachen hatten all seine Sachen hier hineingestopft. Nur sein Mantel hatte auf einem Wandhaken über seinen Stiefeln gehangen.
Nesfalador griff in den Rucksack. Ihm stank der Geruch von Pulvern, Kräutern und Salben entgegen, der manchem Zauberer, Wissenschaftler oder Arzt gefallen hätten. Doch da war zuallererst der Langdolch, den seine verstorbene Schwester für ihn geschmiedet hatte. Im Griff saß ein Adler – sie hatte immer wieder ein Auge für die kleinen Details bewiesen. Nesfalador strich einmal über die feinen Schwingen und Federn und wischte dann die öligen Fingerabdrücke weg, die er auf ihnen hinterlassen hatte. Danach steckte er den Dolch zurück in die Scheide und wühlte weiter durch Beutel, Taschen und Dosen.
Alles, was er brauchte, war da. Hoffte er.
Er stand auf und blickte auf die Stadt hinab. Der Wind wehte ihm eine weiße Strähne ins Gesicht. Er fühlte sich schwach und ausgelaugt, alt und durchlebt: In seinen Muskeln pulsierten kleine Stiche, wie sie nur von Rissen kommen konnten. Und so fühlte es sich für ihn an: Als ob die Jahre auf Wanderschaft seine Muskeln zerfetzt hätten. Und an seinen armen Rücken wollte er gar nicht erst denken, aber daran war vielleicht auch das Alter Schuld.
Zwischen vielen kleinen Taschen und Beuteln fand er die beiden wichtigsten Gegenstände für seine Mission. Ja, das Artefakt war da, aber jetzt brauchte er ein Ledersäckchen, in dem ein anderes Wunder wohnte. Das fand er unter einer kleinen Holzschatulle, und der süße Duft der getrockneten Blätter verdrängte sofort den Gestank der Zerstörung, der über Tharamant lag. Nesfalador nahm ein paar Blätter, rollte sie in einem kleinen Papierblatt zusammen, steckte das Röllchen in den Mund und zerrte dann eine Schachtel Streichhölzer aus seinem Rucksack. Ein paar Sekunden später blies er kleine, graue Wolken in die Luft, und schon nach den ersten beiden Zügen wichen die Schmerzen einer Wärme, die von seinem Kopf aus bis hinein in die Finger- und Zehenspitzen stieg. Plötzlich konnte er viel weiter sehen: Er erkannte die rennenden Menschen im Stadtzentrum, die Maschinen, die sie verfolgten, und die Piloten in den Köpfen der Donnerwale, die den Himmel beherrschten. Alle bewegten sich viel langsamer als vorher; und plötzlich lag eine einsame Ruhe über der Stadt.
Keine Eile, dachte er.
Während der nächsten Viertelstunde rieb er gedankenverloren an den Raubtierzähnen seiner Halskette herum. Dann nahm er einen kleinen Schluck aus seinem Trinkschlauch und stieg vom Dach hinab. Über der Stadt begann der Abend, und schon bald sollte es Nacht sein. Es war die letzte Sommernacht der Menschen von Tharamant – ab morgen begann der Herbst. Die Blätter würden in den nächsten Wochen von den Bäumen fallen, und nur ihre Stämme sollten überleben. Doch ob sie stark und kräftig genug für den langen Winter waren, mussten sie erst noch beweisen.
Nesfalador griff in seinen Rucksack und setzte sein Dunkelsichtokular auf, eine einäugige Brille, die er selber gebaut hatte. Mit der klobigen Linse über dem rechten Auge konnte er weiße Schatten in der Dunkelheit, Rauch und Nebel sehen. Aber die Schatten blieben aus, und so setzte er die Brille wieder ab und hing sie an seinen Gürtel. Vorsichtig drückte er sich dann mit beiden Händen an den Stumpf eines gefällten Monolithen und atmete tief durch. Es war eigenartig ruhig in diesem Viertel; die Menschen waren geflohen, und die Straßen waren fast leer. Er sah keine Soldaten. Außer Staub und Trümmern war niemand in dieser Gegend – der Stadtteil war leer, verlassen, als ob hier niemals Menschen gelebt hätten.
05: Heldinnen
Ancardia sprang auf. Panisch wischte sie mit ihren Händen über Beine, Arme und durch ihre Haare. Alles war nass, alles klebte, alles stank. Sie hob erst den einen Ärmel, dann den anderen, doch sie fand nichts, mit dem sie den Schmutz aus ihrem Gesicht waschen konnte. Sie würgte. Alles drehte sich und alles war kalt, schlecht und dunkel.
Ihr rechter Fuß brach ein und blieb stecken. Mit weiten Augen blickte sie über tausende von Knochen, auf denen rotbraune Krusten wuchsen. Sie mussten sich schon seit Ewigkeiten hier stapeln – keine Wochen oder Monate, sondern Jahre, womöglich sogar Jahrhunderte. Ancardia wollte es nicht wissen. Keuchend zerrte sie an ihrem Bein und holte es aus dem Knochenhaufen heraus, um dann mit dem anderen Fuß tiefer in den Berg zu sinken. Dieses Mal brach sie fast bis zum Knie ein.
“Was in Andalors Namen ist das hier?”, rief sie, während sie an ihrem Bein zog. Das Abwasser hatte die Fackel gelöscht, doch aus dem Loch in der Decke fielen fahle Lichtstrahlen in das Gewölbe. Die Wände verengten sich weit über ihnen zu einer Kuppel, und von den Mauern herab grinsten die hohläugigen Schädel längst verstorbener Menschen. Zwischen ihnen bauten Oberschenkel, Ellen, Speichen, Rippen und Becken weite Bögen, mit denen sie die runden Mauern und das Dach der Kuppel stützten, und Ancardia glaubte, in den Fugen zwischen ihnen kleine Fingerknochen zu erkennen. Sie starrte und spürte, wie sich die Haare auf ihren Armen aufstellten. Dann zog sie ihr Bein aus dem Haufen und taumelte ein paar Schritte bergab. In ihren Stiefeln trug sie etwas mit sich, das schwer wie Sumpfwasser wog, und die kalte Nässe kletterte bis zu ihren Oberschenkeln hinauf. Sie zitterte und wischte einmal, zweimal, dreimal über ihre Hose, um das Wasser aus den Hosenbeinen zu quetschen und ihre Hände zu trocknen – ohne Erfolg. Etwas klebte in ihren Haaren, und sie mochte sich nicht vorstellen, was es war, als sie mit den Fingern durch die Strähnen fuhr, immer und immer wieder, bis sie es nicht mehr versuchen wollte.
Hinter ihr hörte sie, wie Dahales aus den Knochen aufstand.
“Wo… Wo sind wir denn hier?”, rief er ihr zu.
“Woher soll ich das denn wissen?”, zischte sie, biss die Zähne zusammen, stolperte vorwärts und brach erneut ein. Sie spürte, wie ein abgebrochener Knochen durch ihren Stiefel schnitt und in ihre Haut stach.
“Scheiße!”, schrie sie. Selten hatte sie so starke Wut gespürt. Sie schlug mit ihrer flachen Hand in einen kleinen Knochenhügel neben ihr, als ob sie einem der Schädel eine Ohrfeige geben wollte, weil er so frech grinste. Ein Schenkelknochen rotierte durch die Luft und zersplitterte, als er auf dem Boden am Fuß des Hügels aufschlug. Zitternd zerrte Ancardia ihren Fuß hinter sich her und wankte den Berg hinunter, bis sie auf festen Boden stieß. Kleinere Knochen purzelten an ihr vorbei wie Sandkörner von einer Düne.
“Ich gebe zu, das war eine dumme Idee”, sagte Dahales. “Keine Ahnung, wie wir da wieder hinaufkommen sollen.”
Sie schwieg und schloss die Augen. In ihrer rechten Hand ballte sie eine Faust, die stank und klebte und sich nicht so gut anfühlte, wie sie erwartet hatte. Sie schauderte und spreizte ihre Finger. Vielleicht mochten sie in der muffigen Luft trocknen, die im Gewölbe stand.
“Aber ich denke, dass wir hier unten vielleicht sicher sind vor dem, was an der Oberfläche geschieht”, sprach Dahales. “Siehst du, da hinten, da ist ein Durchgang. Das heißt, hier sind schon einmal Menschen gewesen.”
Sie drehte sich zu ihm, ließ ihren Blick über Knochenberg und Wände schweifen und knurrte dann: “Sag bloß.”
Dahales verdrehte die Augen und ging an ihr vorbei. Schwere Tropfen fielen von seinen weiten Kleidern herab. Ancardia folgte ihm zu einem gebogenen Durchlass, an dessen Höhepunkt ein Schädel in einem Ring aus Armknochen saß. Langsam humpelte sie in den Gang hinein. Hinter dem Durchlass führte er abwärts in die Dunkelheit. Dahales hatte keine zweite Fackel in seinem Rucksack, und so tasteten sie sich vorsichtig an den glatten Wänden entlang. Immer wieder glaubte sie, Käfer und haarige Spinnen über ihre Finger krabbeln zu spüren, und einmal fühlte sie einen leisen, kühlen Windhauch. Doch der verschwand so schnell, dass sie ihn bald wieder vergaß.
Vor ihr schlugen die schweren Schritte von Dahales auf die Stufen einer rutschigen Treppe, die man vor hunderten von Jahren in den Fels gehauen hatte. Er schnaufte stark, und bei jedem Schritt quietschten seine Stiefel, als ob er einen Sumpf durchquerte. Manchmal glaubte Ancardia, den Halt unter ihren Sohlen zu verlieren – dann drückte sie sich mit beiden Handflächen an die Wand. Sie wollte nicht noch einmal fallen. Doch je weiter sie in die Tiefe stieg, desto glatter und gerader wurden die Wände. Sie spürte unter ihren Fingern, wie ein leiser Hauch von Zivilisation zu ihr zurückfand. Schließlich standen die Wände in einem Winkel von neunzig Grad vom Boden ab.
“Sieh’ mal”, sagte Dahales.
In der Ferne leuchtete etwas, und schon bald lag ein fahles Licht auf dem grauschwarzen Stein des Tunnels. Als sie weiter humpelte, konnte Ancardia endlich die Hände von der Wand nehmen, denn das Licht strahlte hier so hell wie unter einer Straßenlaterne im nächtlichen Tharamant. Es schien direkt von den Wänden zu kommen: Oder es lag wie ein dünner Film auf dem Fels. Ancardia konnte es nicht erkennen.
Später weitete sich der Tunnel zu einer kleinen Kammer. Alle ihre Flächen waren gleich lang und breit, und an den Wänden links und rechts saßen Einlässe, in denen türkise Kristalle steckten. Das kalte Licht, das von ihnen ausging, hätte auch einem Geist gut gestanden. Ancardia drehte sich um und sah Dahales ins Licht treten. Ihre nächsten Herzschläge sprangen leichter als in der Dunkelheit, und sie spürte, wie die Kälte aus ihren müden Beinen verschwand – bis sie sich umdrehte und nach dem Ausgang aus der Kammer suchte.
“Oh nein”, murmelte sie. “Sag’ mir nicht, dass es hier nicht weitergeht.”
Direkt vor ihnen versperrte ein schwerer, kantiger Steinblock den Durchgang. Ancardia ging auf den Block zu und hob ihre Hand. Als sie ihre Finger auf die kalte, schwarze Steinfläche drückte, leuchteten rund um ihre Spitzen blassgrüne Lichter auf. Schriftzeichen, Symbole und Gravuren erschienen, doch sie lagen nicht im Stein selber, sondern schienen auf seiner Oberfläche zu schwimmen, so wie eine dünne Schicht Öl, die auf dem Wasser liegt. Als Ancardia ihre Hand zurückzog, blieben die Lichter: Sie zeigten ganze Texte in einer Sprache, die sie nicht lesen konnte. Langsam wanderten sie von oben nach unten, und ein paar Einzeiler zogen von rechts nach links.
“Was soll das denn jetzt?”, sagte sie und kniff ihre Augen zusammen. Sie versuchte, einzelne Wörter zu entziffern, aber sie konnte noch nicht einmal erkennen, zu welcher Sprache die Schriftzeichen gehörten. “Würde ich das jetzt gerne lesen können…”
“Ernsthaft?”, fragte Dahales und schnaufte. “Da leuchtet ein massiver, schwarzer Stein. Ich würde sagen, dass das zu den weniger guten Zeichen gehört, die wir heute gesehen haben.”
Sie hob eine Augenbraue und sah ihn an.
“Was etwas heißen will”, fügte er hinzu und neigte seinen Kopf.
“Ist trotzdem die erste Sache heute, vor der ich keine Angst habe”, sprach sie.
“Mich eingeschlossen?”
“Dich eingeschlossen, ja.”
Er schüttelte den Kopf.
“Wir sollten umkehren, Ancardia. Vielleicht finden wir doch noch einen Weg in die Kanalisation zurück.”
“Wie willst du denn aus dem Knochendom in die Kanalisation zurück?”, entgegnete sie. “So weit nach oben kommen wir nicht. Aber ich sag’ dir, wir können hier weiter. Dieser Fels ist eine Tür, und irgendwo ist ein Mechanismus, um sie zu öffnen. Wenn wir uns beide anstrengen, finden wir einen Weg.”
Ancardia suchte den Raum ab und spürte ihr Herz klopfen. Sie wusste noch nicht, auf was sie hier gestoßen war – aber sie wollte es herausfinden. Sie sah auf die wandernden Lichtzeichen und fragte sich, ob sie warnten oder willkommen hießen.
“Komm’ schon, Dahales”, sprach sie. “Vielleicht sind wir die ersten, die diese Gänge erkunden. Und vielleicht finden wir dann einen anderen Weg an die Oberfläche.”
Er runzelte die Stirn, blickte zu Boden und sah sie dann an. Dann schüttelte er den Kopf.
“Was soll’s”, sagte er und stellte sich neben ihr an den Steinblock. Zusammen drückten sie alle vier Hände an den Fels. An den Stellen, an denen sie den Stein berührten, erschienen kleine Kreise aus Licht, die wie Wellen in einem Teich immer größer wurden, über die Fläche schwebten und dann verblassten.
Dann schoben sie. Ancardia spürte, wie sie an jedem Muskel in ihren Armen und Beinen riss. Sie warf ihr ganzes Gewicht gegen den Felsen und fühlte den Schweiß auf ihrer Haut, der sich mit dem Kanalwasser in ihrer Kleidung traf. Doch der Fels wich keinen Millimeter; Ancardia verlor den Gedanken, ihn überhaupt bewegen zu können.
“Das hat keinen Zweck”, sagte Dahales schließlich und schnaufte. Im Kristallicht sah sie, dass er ebenso nass war wie sie selber. Er rieb seine Hände ineinander. “Geh’ zur Seite. Ich werde versuchen, den Stein aufzulösen.”
Erneut hob Ancardia ihre Augenbraue.
“Wie willst du denn den Stein auflösen?”, fragte sie.
“So, wie ich uns auch vor dem Gaskessel geschützt habe”, antwortete er. “Geh’ jetzt bitte ein paar Schritte zurück. Ich will dich nicht verletzen.”
Ancardia tat, was er sagte, bevor Dahales die Augen schloss und seine Hände auf den Felsen legte. Neue Wellen aus blassem Licht schwammen über die Oberfläche. Dann spannte Dahales seine Muskeln an. Ein heller Blitz blendete Ancardia, und sie zuckte zurück, und eine kurze Sekunde lang stand Dahales in einer Blase aus purem Licht. Sofort verloschen die Zeichen auf dem Stein. Die vordere Hälfte des Felsens krachte erst auf den Boden, und dann fiel sie vornüber: Dahales hatte eine glatte Kurve in den Stein geschnitten.
“Das ist ja der Wahnsinn!”, rief Ancardia aus, trat an Dahales heran und legte ihre Hand auf seine Schulter. “Vergiss’ alles, was ich gesagt habe. Bei Andalor, Dahales, das ist fantastisch!”
Er lächelte.
“Danke”, sagte er, stützte sich auf seine Knie und holte tief Luft. “Aber vergessen wir es nicht ganz. Du hast Recht. Wir werden reden müssen, wenn das hier alles vorbei ist.”
Sie spürte ihr Herz klopfen.
“Hast du das über die Jahre heimlich geübt?”, fragte sie.
“Wenn du damit geboren wirst, dann lernst du, damit umzugehen”, murmelte er und richtete sich auf. “Und darum töte ich auch niemanden, der neben mir im Bett liegt. Aber ich bin hier noch nicht fertig. Geh’ nochmal bitte zur Seite.”
Sie nickte und nahm die Hand von seiner Schulter, damit er den Rest des Felsens lösen konnte. Dahales fasste an den Fels und stemmte seine Hände gegen ihn. Ancardia sah einen weiteren Lichtblitz, und dann verschwand Dahales. Staub rieselte von der Decke des Durchgangs, und eine graue Wolke verschlang den Tunnel. Von beiden Seiten und von oben stürzten Steine herab.
“Dahales!”, rief sie und eilte zum Durchgang. “Ist dir etwas passiert?”
Ancardia hörte keine Antwort. Mit beiden Händen fegte sie den Staub aus ihrer Sicht und beugte sich zu ihm. Dahales lag unter einigen Steinen, die auf seinen Beinen und auf seinem Rücken lagen. Zum Glück waren sie nicht zu groß, und er hatte noch rechtzeitig die Arme über seinen Kopf reißen können. Dahales stöhnte und hob sich aus den Steinteilen hervor. Ancardia legte seinen Arm um ihre Schulter, um ihn zu heben, und wischte mit ihrer freien Hand den Staub vom Hemd.
“Das war unglaublich dumm”, brummte er und rieb sich den Oberarm. “Hab’ was aus der Decke gerissen. Das hätte mich umbringen können.”
Sie nickte, half ihm auf die Beine und legte ihre Hand auf seine Schulter.
“Seien wir von nun an vorsichtiger”, fügte er hinzu.
“Einverstanden”, sagte sie und humpelte hinter ihm in die Dunkelheit des nächsten Ganges. Unter ihren Sohlen spürte sie, wie der Boden in einer Rampe abwärts führte, und vor ihr stampften die starken Schritte von Dahales, der mit jedem Atemzug keuchte. Irgendwann glänzte schließlich etwas in ihren Augen: In der Ferne tauchte ein Licht auf. Ihr Herz klopfte, und sie vergaß die Schmerzen, Kälte, Nässe und die Dunkelheit, als sie an die Wunder dachte, die auf sie warteten.
Als sie den Tunnel verließ, musste Ancardia ihre Augen zusammenkneifen, weil das Licht sie blendete. Auch hier hingen Kristalle in den schwarzen Wänden, und Ancardia schauderte, als sie sich fragte, seit wie vielen Jahren oder Jahrhunderten sie schon leuchteten – und weil die Wände weit über ihr in der schwarzen Leere verschwanden. Dann fiel ihr Blick auf das Ende der Halle. Hier bewachten hohe Statuen ein weites, offenes Tor. Sie waren bestimmt viermal so hoch wie Ancardia selbst und trugen Speere, Schilde und Schwerter, Bögen, Hämmer und Äxte, Gewehre und andere Waffen, für die Ancardia keine Namen kannte. Einige Frauen trugen Rüstungen; andere waren nackt, andere standen aufrecht und streckten ihre Waffen in den Himmel, andere hockten, als ob sie Fährten lasen, und wieder andere sahen aus, als hätte man sie im vollen Lauf versteinert.
“Verzeih’ mir, wenn ich starre, Ancardia”, flüsterte Dahales. Als sie ihn ansah, merkte sie, dass er den Blick nicht von den Statuen lassen konnte. Sie musste lächeln.
“Klar. Sowas sieht man nicht alle Tage”, antwortete sie und sah zu einer der nackten Statuen herüber. “Einige von denen sind sehr… ‘Detailliert’, möchte ich sagen.”
Ihre Stimmen und Schritte wanderten lang und dumpf zwischen den Wänden der Halle, bis Ancardia und Dahales langsam an den Statuen vorbeischlichen und durch das Tor traten. Stille verschluckte alle Geräusche, und Ancardia glaubte, nur noch ihren Herzschlag hören zu können. Als sie in den nächsten Gang trat, hielt sie die Hand vor ihre Augen: Licht lief wie ein träger Wasserfall von oben nach unten über Wände, die erst zwanzig Meter über ihrem Kopf auf die Decke des Gangs trafen. Sie standen in einem rechten Winkel vom Boden ab und zeigten Bilder aus geistergrünen Lichtern. Wie eine dünne Wasserdecke lagen sie auf den Flächen und zeigten Schritte, Tänze, Blicke, wehendes Haar, schwingende Schwerter, fliegendes Feuer und flatternde Buchseiten, Gewänder, mal eng und weit; dicke Bäuche, dünne Taillen, schwere Hüften, drahtige Arme, flache Hintern und dicke Backen, weite Schritte, Sprünge, kleine Augen, runde Augen, große Augen, geschminkte Augen, wütende Augen und lachende Augen.
Ein Teil der Kälte verschwand aus Ancardias Körper. Sie trat an die Wand zu ihrer Linken heran und tippte mit dem Zeigefinger in das Gesicht einer kurzhaarigen Frau, die in der Kabine einer riesigen Maschine saß. Um ihren Finger herum tanzten zarte Kreise wie auf dem Spiegel eines ruhigen Teichs.
“Wie ist das möglich?”, fragte sie. Dahales antwortete ihr nicht. “Wie kann das sein, wieso bewegt sich das alles?”
Wer auch immer diese Ruinen geschaffen hatte, musste älter als Tharamant sein; weitaus älter als alles, was Ancardia kannte. Auf einem anderen Bild sah sie einen Menschen in einer Rüstung, unter dessen Helm sie noch nicht einmal die Augen des Trägers erkennen konnte. Seine Schultern steckten unter großen Metallkugeln, und anstatt einer Hand trug er ein Rohr an seinem Arm, aus dem blendendes Feuer schoss. Er sprang in die Luft, drehte sich ein paar Mal um die eigene Achse und landete dann mit beiden Füßen auf dem Boden. Dann nahm er den Helm ab, und langes, glattes Haar und das Gesicht einer jungen Frau strahlten ihr entgegen. Das Bild verharrte auf ihrem Portrait und zeigte dann erneut ihren Sprung. Ancardia starrte mit weiten Augen und hielt ihre Finger auf das Bild. Wellen sprangen von ihren Fingerspitzen auf die Wand und verloren sich in der Ferne. Wie gerne hätte sie das Bild in Farbe gesehen; doch die Wand kannte nur Schwarz und verschiedene, blasse Grüntöne, die in ihren kräftigsten Stärken beinahe weiß von den Wänden leuchteten.
“He, Ancardia, sieh’ dir das einmal an”, rief Dahales ihr zu. Seine Stimme schallte dumpf durch den Gang. Er winkte ihr zu und deutete auf ein großes Bild an der Wand. Hier sah Ancardia eine Frau mit dichten, dunklen Locken. Sie trug ein junges Mädchen auf dem Arm, das sich an sie klammerte; Angst sprang aus ihrem Gesicht. An einem Tragegurt hielt die Frau ein Gewehr in der anderen Hand, aus dessen Mündung Flammen schossen. Dann blitzte etwas, und Ancardia glaubte fast, den Donner zu hören, den die stummen Bilder verschwiegen: Innerhalb von Sekunden verschlang der Flammenstrahl übergroße Eier, die wie Pflanzen aus dem Boden wuchsen. Die Frau floh mit dem Mädchen vor einem riesigen Monster ohne Augen; und dann saß sie in einem Maschinenmenschen und jagte das schwarze Biest zu den Sternen.
Ancardia sah kurz zu Dahales. Die Bilder spiegelten sich in seinen weiten Augen. Sie sah sich um und schüttelte den Kopf.
“Was für eine furchtbare Welt dies mal gewesen sein muss, wenn solche Kreaturen durch die Nacht schlichen”, murmelte sie. Als ihr Blick auf das Bild eines Wurms fiel, der aus dem offenen Brustkorb eines Mannes schnellte, wandte sie sich ab und war plötzlich froh, dass die Bilder keine Farben zeigten.
“Ja. Wie gut, dass wir in anderen Zeiten leben”, antwortete Dahales. Doch Ancardia vergaß sofort, dass er etwas gesagt hatte. Langsam ging sie an den Bildern vorbei. Jeder Schritt schlug fester und sicherer auf den Boden als der letzte, und bald hallten ihre Stiefel durch den ganzen Gang wie in einem Museum nach Ende der Öffnungszeiten.
Ancardia lächelte. Sie sah eine Piratin, die auf dem Deck eines hölzernen, fliegenden Schiffes stand und von dort auf einen Drachen sprang, mit dem sie durch die Wolken flog. Auf einem anderen Bild erkannte sie eine Bühne, auf der die Hände einer Musikerin über die dünnen Saiten einer Gitarre flitzten. Daneben hob eine Schwertkämpferin ihren Helm und zeigte lange, wehende Haare, bevor sie ihr Schwert in den Helm eines dunklen Geistes rammte, der vor ihr kniete; und auf einem riesigen Bild weiter hinten schmetterte eine ebenso riesige Sängerin ihr Lied in die tobende Menge zu Füßen der Bühne. Sie trug einen kleinen Ring in der Nase, und obwohl Ancardia nichts hören konnte, konnte sie die Kraft ihrer Stimme sehen, denn die Menge jubelte und tanzte. Die Menschen rissen ihre Arme in die Höhe und schwenkten sie wie Wellen im Meer umher.
“Wie konnten sie nur verschwinden?”, fragte Dahales. Ancardia drehte ihren Kopf zu ihm.
“Wie konnte wer verschwinden?”
“Komm’ schon. Die Menschen, die das hier gebaut haben”, sagte er. “Du siehst doch, was sie auf den Bildern zeigen. Wie konnte all dieses Wissen verloren gehen?”
“Oder diese Geschichten”, sagte sie. “Woher willst du wissen, dass das wahr ist, was wir hier sehen?”
“Natürlich ist das wahr”, brummte er. “Das sind Photographien, die sich bewegen. Ich meine, wir sehen es doch, also muss es doch wahr sein, oder?”
“Ich kann auch eine Opernbesetzung in Kostümen photographieren”, erwiderte sie und ging weiter. “Und trotzdem muss die Geschichte, die sie auf der Bühne spielen, nicht wahr sein. Verstehst du, was ich meine?”
Er verdrehte die Augen und sah auf die Bilder.
“Klar”, sagte er. “Warum auch nicht. Trotzdem ändert es nichts an der Frage, warum sie verschwunden sind.”
“Und warum die alle helle Haut haben”, fügte Ancardia hinzu.
Sie dachte an Bordakane, mit dem sie gestern an der Universität gesprochen hatte; er hätte seinen Gefallen an dieser Halle gefunden. Vielleicht erzählten die Bilder von den Zeitaltern, die er so verzweifelt in Ausgrabungen und alten Büchern suchte. Vielleicht zeigten sie eine Welt, die seine Vorstellungen überstieg. Ancardia wusste es nicht. Klar, Tharamant wunderte sich über Luftschiffe, doch wie die Bilder zeigten, flogen die Menschen der Vergangenheit noch viel weiter – nämlich bis zu den Sternen. Und jetzt existierten sie nur noch in diesen bewegten Bildern, die tief unter der Stadt immer wieder den gleichen, längst vergessenen Traum wiederholten.
“Dahales”, rief sie. “Was glaubst du, wie alt das hier ist?”
Er schüttelte den Kopf und zog die Schultern hoch.
“Frag mich nicht. Ich bin nur ein Koch”, antwortete er. “So toll das alles hier auch ist, frage ich mich eher, woher das alles hier seine Energie kriegt. Das ganze Licht kann doch nicht aus dem Nichts kommen.”
“Ja, in der Tat”, sagte sie. “Diese Halle ist voller Geheimnisse. Ich wünschte, wir könnten sie unter anderen Umständen besuchen.”
Ancardia blickte noch einmal auf die Bilder. Wenn sie nur die Rüstung der ersten Frau betrachtete oder aber an die Gitarristin dachte, dann kamen ihr Ideen, wie die Welt dieser Menschen ausgesehen haben musste. Es musste ein technologisches Paradies gewesen sein, und allen finsteren Kreaturen zum Trotz waren Kunst und Kultur hoch angesehen – sonst hätten die Musikerinnen nicht Seite an Seite mit den Kriegerinnen gestanden.
Langsam ging sie weiter und traf auf eine Zeichnerin, die eine Bilderserie zu Papier brachte. Sie kritzelte fremde Schriftzeichen in die weißen Blasen über ihren Figuren. Dann erkannte Ancardia eine Ärztin, die mit einem Mann mit Gehstock stritt, und ein paar Meter weiter versteckte eine andere Frau ihre dicken, aufgemalten Augenringe unter dem Schatten einer Kapuze. Eine Frau mit Stachelfrisur tippte im nächsten Bild auf einer Art Schreibmaschine, die kein Papier führte, während eine weitere mit einem ganzen Chor zusammen sang und tanzte. Ancardia fuhr mit ihren Fingern durch ihre klebrigen Haare, hob ein paar einzelne Strähnen in die Höhe und fragte sich, wie gut ihr ein paar Haarstacheln stehen würden.
“Was für ein seltsamer Ort”, murmelte sie und ließ ihre Haare wieder fallen. “Und wahrscheinlich nicht einmal hundert Meter unter den Straßen der Stadt. Dahales, wir müssen unbedingt lebend hier herauskommen. Ich will über diese Ruinen schreiben. Ist ‘Ruine’ überhaupt das richtige Wort?”
“Frag’ mich nicht”, murmelte er. “Vielleicht ist es ein Grab? Oder ein Tempel? Ich weiß es nicht.”
Wortlos gingen sie unter einem Tor hindurch und traten in den nächsten Gang. Über ihnen hingen leuchtende Kristalle wie die Knochen einer Wirbelsäule an der Decke, und feuchtwarme Luft kroch an ihren Beinen hinauf. Der Gang führte sie nach einigen Metern in einen achteckigen Raum, der in jeder Himmelsrichtung in einem Tunnel mündete. Die Wände zu ihrer Linken gaben ein schwaches, rotes Licht ab, während vor ihnen ein kristallklares weißes Licht den Weg erhellte. Ein sonnengelber Ton umhüllte den rechten Gang.
Ancardia sah sich um, blickte von einem Tunnel zum nächsten und biss die Zähne zusammen. Drei neue Wege; selbst zwei wären zu viel gewesen. Ein dünner Nebel kroch um ihre Stiefel, und faule Gerüche gärten in der Luft. Fels und Staub mischten sich mit Schimmelpilzen, altem Fisch und Exkrementen, und wenn Ancardia einatmete, spürte sie eine Wärme wie aus dem Inneren eines Insektenstocks in ihre Lungen eindringen.
“Was nun, Dahales?”, murmelte sie und blickte von einem Tunnel zum nächsten.
Er stöhnte auf.
“Ich weiß es nicht”, fragte er und hustete. “Ich hab’ diesen Tempel nicht gebaut.”
Dann spürte Ancardia seine Hand auf ihrem Rücken.
“Aber wir sind ja zusammen und am Leben, nicht wahr?”, fragte er und wusste offenbar selber nicht, wie er das meinte. Sie drehte sich zu ihm um und erst jetzt sah sie, wie müde und ängstlich er sie anblickte. Doch er sagte nichts. Er konnte nichts sagen: Irgendwo in den Tunneln bellte ein Tier.
06: Maskenfall
Vherendie zitterte und schaukelte im Bauch der riesigen Maschinenheuschrecke. Das blasse, künstliche Licht aus den grellen Röhren an der Decke ließ keinen Raum für Schatten, und die Maschinen unter ihr knackten, brachen und krachten, als wollten sie erst am Ende aller Tage innehalten. Neben ihr kauerte Vedian, der seine flache Hand gegen die linke Seite seines Kiefers hielt. Vherendie schloss die Augen und lehnte ihren Kopf an seine Schulter.
“Tut es noch weh?”, flüsterte sie. Er antwortete nicht. Vherendie zog ihre Beine an den Körper und öffnete die Augen. Durch die schmalen Schächte in den Wänden konnte sie zerstörte Häuser, Mauern und Straßen sehen. Gestürzte Säulen und Monolithen lagen wie gefällte Bäume nebeneinander, und aus den Wohngebäuden ragten Holz- und Stahlgerüste wie abgenagte Rippen hervor. Der aufgehende Mond warf ein Geisterlicht auf eine Geisterstadt; er beleuchtete ein Skelett, das in der Natur verrottete. In seinem Licht konnte sie sehen, dass die Maschine sie an den Resten der *Pfeffermühle* vorbeitrug, einem Restaurant, das in der Spitze der ehemaligen Windmühle saß, einem der ältesten Bauwerke von Tharamant. Hier konnte man über den Dächern der Stadt essen und auf sie hinuntersehen, wenn man das nötige Kleingeld besaß. Vedian hatte dieses Geld besessen und oft verschiedene Frauen dorthin eingeladen, bevor Vherendie ihn kennengelernt hatte.
Sie setzte ihre Brille ab, fuhr mit den Fingern durch ihre Haare und sah sich um, ohne den Kopf zu bewegen. Sieben weitere Menschen hockten auf dem zitternden Boden, ihre Rücken an den dicken Stahlwänden der Kammer. Sie trugen zerfetzte, dreckige Kleider, die noch am Morgen bunte Farben zur Schau gestellt hatten, jetzt aber den Staub, den Schlamm und das Blut der Stadt sammelten. Am Ende des Raumes hielten sich zwei bewaffnete Wachen an Griffen fest, die an der Wand hingen. In ihren Rüstungen spiegelte sich das eiskalte Licht, und beide Wachen trugen Helme mit Visieren, durch die Vherendie nicht hindurchgucken konnte. Wenn sie sprachen, rauschten und zerrten ihre Stimmen. Ihre Gewehre hielten sie lässig in den anderen Händen; die schlanken Läufe schaukelten im Takt der Maschine unter ihren Füßen. Doch was für Menschen sich in den Rüstungen verbargen, ob sie Väter waren, und ob sie von einer Welt nach dem Militärdienst träumten, konnte Vherendie nicht erkennen. Vielleicht waren sie selber Maschinen.
Vherendie sah zur Seite. Neben einer Strebe saß eine Frau am Boden und weinte. Sie hatte das schon getan, als die Soldaten Vedian und Vherendie in die Kammer hineinprügelten. Laut und nass schluchzte sie in den Raum hinein, und immer wieder verschluckten die Maschinen ihre Tränen, bis einer der Soldaten zu ihr ging und ihr das stumpfe Ende seiner Waffe an den Kopf schlug. Sie schrie auf, zog den Schleim in ihrer Nase hoch und wimmerte dann leise vor sich hin.
Angst oder Wut – Vherendie wusste nicht, was sie fühlte. Ihr Herz klopfte, und sie zog ihre Finger zu kleinen, zitternden Fäusten zusammen. Dann schlug der Soldat wieder zu, und als die Frau ihn anschrie, dass er aufhören sollte, konnte Vherendie in ihr Gesicht sehen. Die Tränen hatten die Schminke aus ihren Augen gewaschen, und aus der linken Seite ihres Mundes tropften Blut, Speichel und Rotz. Ihre Haare klebten strähnig in ihrem Gesicht. Aus ihrem Kleid und der Kette an ihrem Hals schloss Vherendie, dass die Frau zur höheren Schicht von Tharamant gehörte – oder nur so aussehen wollte. Sie fand es schwer, unter den vielen Schichten Pulver und Puder zu erkennen, aus welcher Region der Stadt sie kam.
Plötzlich spürte Vherendie die Hand von Vedian auf ihrem Oberschenkel, die einsam nach ihrer Faust tastete. Zornig sah sie zur Seite und traf seine Augen.
“Tu’s nicht”, flüsterte er.
“Wer dann?”, flüsterte sie zurück.
Er schwieg. Nach einer Weile griff sie nach seiner Hand und spürte seinen ängstlichen Puls durch ihre Finger laufen. Seine Augen spiegelten das kalte Licht der Deckenleuchten, und als Vherendie den nassen Glanz in ihnen nicht mehr ertragen konnte, sah sie zur Seite und setzte ihre Brille wieder auf. Vedian hatte Recht: Es hatte keinen Sinn, so sehr sie sich auch gegen diesen Gedanken wehrte.
Am anderen Ende des Raumes wimmerte die Frau und hielt beide Hände vor ihr Gesicht. Sie rollte sich am Boden zusammen und atmete schwer, während der Soldat sein Gewehr anlegte und auf sie zielte. Vherendie drückte Vedians Hand zusammen und zog die Füße über den Boden, bereit, aufzuspringen; doch in diesem Moment rauschte die Stimme des anderen Soldaten durch den Raum. Er packte den Schützen an der Schulter und drehte ihn herum.
Sie stritten miteinander, doch Vherendie konnte nicht verstehen, worüber sie sprachen.
Kein Gesicht.
Keine Augen.
“Ich dachte, dass ich wüsste, wie Monster aussehen”, flüsterte Vedian Vherendie zu. “Doch wenn wir den ganzen Tag von tausend anonymen Toten lesen, die in den Büchern über Katastrophen und Kriege stehen, dann vergessen wir, vor ihnen Angst zu haben.”
Sie sah ihn an.
“Das ist vielleicht klüger als alles, was du jemals gesagt hast”, flüsterte sie und zog einen ihrer Mundwinkel nach oben. Es hielt nicht lange. Sie zitterte noch immer.
Und dann drehte sich die Welt.
Berstendes Metall kreischte wie ein riesiges Tier, in das eine noch größere Bestie seine Zähne schlägt, und die Gefangenen stürzten auf die Seitenwand. Vherendie verlor den Boden unter den Füßen und fiel nach vorne. Dann spürte sie einen Schlag in ihrem Magen. Sie suchte nach Vedians Hand, fand jedoch nur kaltes Metall und andere, leblose Stoffe. Vor ihr rutschte die weinende Frau über den Boden und prallte auf eine andere Wand, und Vherendie streckte ihre Hand aus; doch sie war zu langsam und zu weit weg, um jemanden halten zu können. Hektisch sah sie sich um, nach allen Seiten, hörte Schreie, die zwischen den Wänden umhersprangen, während die verwundete Maschine zum Mond heulte. Frische Seeluft drang durch ein gezacktes Loch in der Wand ein, doch Vherendie roch nur Schweiß, Rauch und vor allem Blut, vielleicht war es ihr eigenes, vielleicht war es das von Vedian oder von wem auch immer. Das Gewicht auf ihr lastete immer schwerer, und etwas stach in ihren Rücken. Das unnatürliche Licht der Deckenlampen erlosch, und bald leuchteten nur noch der Mond und die Feuer der brennenden Stadt.
“Runter von mir!”, zischte sie und biss die Zähne zusammen. Die Person auf ihr reagierte nicht.
“Verdammt nochmal, ich krieg’ gleich keine Luft mehr!”, presste sie hervor und stemmte sich mit all ihrer Kraft gegen den Körper, der auf ihr lag. Gerade, als ihre Muskeln zu brennen begannen, rollte die Person von ihr herunter und blieb reglos neben ihr liegen. Vherendie hob sich auf ihre Beine, taumelte zur Seite und hielt sich an einer Strebe fest, während ihre Stiefel wie zwei wütende Betrunkene umeinander herumtanzten. Ihre Beine fühlten sich an, als ob jemand die stützenden Knochen aus ihnen entfernt hätte, ohne die Wunden wieder zuzunähen.
Nach den ersten Atemzügen rutschte sie ab und wollte auf ihre Knie sinken, doch sie klammerte sich fest und blieb stehen. Erst nach ein paar Sekunden konnte sie erkennen, was geschehen war. Eines ihrer Brillengläser trug einen Riss, der wie ein blasser Wurm in ihrem Sichtfeld hing. Das Innere des Fahrzeuges hatte sich der Stadt angepasst: Zwei oder drei Menschen mussten tot sein, oder vielleicht auch nicht, Waffen lagen auf dem Boden, lange Schnitte klafften im Metall der Maschine. Durch die Löcher konnte Vherendie ein paar Sterne zwischen den Rauchwolken sehen. Die Laderampe am Ende der Kammer stand offen und bot einen Blick auf die einbrechende Nacht über Tharamant; die Rampe hing nur noch an einer von beiden Angeln.
Waffen… Soldaten?
Sofort fielen ihre Augen auf die Rüstung, die vor der Laderampe lag. Sie lag schlaff auf dem Boden, in einer ganz und gar unnatürlichen Position – Arme und Beine bogen sich, wie es ohne Bruch nicht möglich war. Vorsichtig schlurfte Vherendie auf die Rüstung zu und warf einen Blick auf die schlichten Formen und runden Mondsymbole, die wie Runen in den Metallpanzer eingraviert waren. Sie zierten vor allem Brust- und Schulterplatten, vielleicht auch die Arme, aber so genau wollte Vherendie nicht nachsehen. Es war schon schwer genug, überhaupt etwas zu sehen.
“He, Vherendie, was machst du da?”, rief eine Stimme hinter ihr.
Sie beugte sich langsam hinunter und klopfte vorsichtig mit den Fingerkuppen auf die Rüstung, dann auf den Helm. Die Panzerung klang hohl, fast wie ein Kochtopf, gegen den man einen Holzlöffel schlägt.
“Spinnst du? Lass’ die Finger davon!”, zischte Vedian hinter ihr. Er kam zu ihr und stützte sich auf seinen Knien ab. Vherendie antwortete nicht, sondern fuhr mit ihren Händen am Helm entlang. Das harte Metall lag kühl und glatt unter ihren Fingerspitzen. Schließlich fand sie am Hals einen Punkt, an dem sie scharfe Ränder spürte. Sie fühlte eine kleine Einbuchtung an jeder Seite und drückte ihre Daumen hinein. Dann konnte sie den Helm vom Kopf herabziehen. Sie wollte wissen, wie diese Monster aussahen.
“Vherendie! Lass das!”, keuchte Vedian, doch sie hörte nicht zu. Unter dem Helm kam ein Kopf zum Vorschein, über dessen linke Hälfte dunkles Blut lief. Die Haut darunter leuchtete blass, fast schon weiß, wie Vherendie es nur von sehr wenigen Menschen aus dem Norden des Kontinents kannte. Er war noch sehr jung, und sein Gesicht war lang und schlank, als ob er kein Gramm Fett an seinem Körper tragen würde. Der Haaransatz stand dicht, das Haar selber aber hatte man kurz geschoren; längere Haare hätten nicht in den Helm gepasst.
Vedian und die anderen Insassen sammelten sich um den toten Soldaten und starrten ihn an. Vherendie spürte die Blicke in ihrem Rücken.
“Wie ist der denn gestorben?”, fragte jemand. “Er war doch von allen hier am Besten geschützt.”
“Nicht gut genug”, faselte ein anderer. Neben ihm hielt sich die weinende Frau eine Hand vor ihren Mund und wischte mit der anderen die Tränen aus ihrem Gesicht.
“Ist er denn überhaupt tot?”, fragte wieder ein anderer. “Fühlen Sie mal seinen Puls.”
Vherendie setzte den Helm auf den Boden und tastete über den dünnen Hals des Soldaten, konnte aber keine Bewegung in der Ader spüren, und ihr eigenes Herz tobte viel zu schnell. Mit ihren Fingern berührte sie etwas am Halsteil der Rüstung, und sie rauschte kurz. Vherendie schrak zurück. Ein verborgener Mechanismus im Brustpanzer klappte zuerst die großen Schutzplatten zur Seite, dann die kleineren Einzelteile, die unter ihr lagen. Nach etwa fünf Sekunden lag die nackte Brust frei im Mondlicht. Der junge Mann hatte nicht die Muskeln, die Vherendie von einem Soldaten erwartet hatte; wenn er in Tharamant gelebt hätte, hätte er ein ganz normaler Junge aus der Nachbarschaft sein können, vielleicht ein Student in seinem ersten Jahr. Doch etwas war anders: In der Mitte seiner Brust saß ein grauer, blutender Stein.
“Was ist das?”, murmelte jemand. Vherendie griff mit Zeigefinger und Daumen nach dem Stein.
“Gut”, brummte Vedian hinter ihr. “Ich geb’s auf. Vherendie, wenn wir das hier überleben, dann bestimmt nicht, weil du alles anfassen musst.”
Vherendie hörte nicht zu; sie wollte nicht zuhören. Mit einem leichten Zug in ihren Fingern löste sie den Stein aus der Brust, als ob sie zwei Magnete voneinander trennen würde. Sie wischte das Blut vom Stein und hob ihn vor ihre Augen. Er hatte die Größe einer feinen Taschenuhr und glänzte im Licht des Mondes; und in seinem Inneren schien etwas wie ein Herzschlag zu pulsieren.
“Vherendie!”, rief Vedian. Als sie sich umdrehte, sah sie, dass er sich die Hand vor den Mund hielt. Seine Augen standen weit offen.
“Was, der Stein?”, fragte sie und war sich nicht mehr sicher, ob sie schon immer so gelallt hatte. Die Nacht verschwamm vor ihren Augen.
“Nein, deine Hand!”
Sie sah auf ihre Finger. Wenn sie ihre Augen zusammenkniff, dann konnte sie die dunklen Umrisse auf ihrer Haut erkennen, die in kleinen Tropfen ihren Arm hinunterrannten. Immer wieder verschwammen sie vor ihren Augen, so wie ihr Arm, und die ganze Welt.
“Sie ist voller Blut”, sagte sie. Dann kniff sie erneut die Augen zusammen und drehte ihre Hand um. Ein langer Schnitt lag in der Innenfläche. An beiden Seiten wölbte sich die Haut nach oben, wie am Rand eines Grabens. Anscheinend war beim Sturz mehr passiert, als sie mitbekommen hatte.
“Irre”, murmelte sie, hob ihre Hand in die Höhe und beobachtete, wie das Blut den Arm hinunter lief. “Das ist ja mein Blut.”
“Ist die bescheuert?”, fragte eine Stimme.
Vherendie stand auf, obwohl ihre Beine immer noch wackelten. Sie glaubte, nach den ersten Schritten wieder umfallen zu müssen. Den Stein steckte sie in ihre Tasche. Plötzlich spürte sie eine Hand auf ihrer Schulter.
“Lass’ uns hier verschwinden”, sagte Vedian, “und das nächste Mal besser aufpassen, bevor wir gefangen genommen werden.”
Vherendie sah ihn aus kleinen Augen an. Sie erkannte sein Gesicht nicht mehr, erst recht nicht, als es mit der zertrümmerten Maschine und den Ruinen im Hintergrund verschmolz.
“Ich weiß nicht“, murmelte sie und sah zum Mond hinauf, dann wieder dahin, wo sie sein Gesicht vermutete. Vor ihren Augen tauchte ein Blitz auf, dann eine Frau, die keinen Unterkiefer trug. Schnee fiel auf Tharamant herab und vergrub die ganze Stadt in wenigen Sekunden unter einer endlosen, weißen Wüste. Sie starrte auf ihre Hand und folgte den Bluttropfen, die an ihrem Arm hinunterliefen. Kalte Hände griffen nach ihr, legten sich auf ihre Schultern und griffen nach ihren Armen.
“Wir sollten einen Unterschlupf suchen. Einen Keller oder so”, sagte eine der Überlebenden. Vherendie suchte nach ihr, fand aber nichts als leere Schatten in der Dunkelheit. Ein grau-silberner Vorhang legte sich auf ihre Augen. Sie griff in die Luft vor ihr, um ihn bei Seite zu ziehen, doch ihre Hände fassten ins Leere.
“Nein, wir müssen hier weg”, brummte eine Stimme neben ihr. In ihren Ohren klang es, als ob die Ruinen der Stadt ihre Worte immer wieder hin- und her warfen. “Sie kommen wieder.”
“Und sollen wir die Verletzten hier so liegen lassen?”, knurrte jemand. “Helft mir, wir bringen sie in den nächsten Keller und verhalten uns ruhig.”
“Sie werden wiederkommen”, sagte eine andere Stimme.
“DARUM VERHALTEN WIR UNS RUHIG!”, brüllte jemand.
Vherendie spürte, wie jemand sie am Arm nach oben zog. Sie versuchte, den Boden mit ihren Füßen zu finden, doch die Steinplatten tauchten plötzlich am Himmel über ihr auf. Sie rieb ihre Augen unter den Brillengläsern. Durch die schmierigen Grauschleier sah sie Schatten, die bewusstlose Körper aus der Kabine der zerstörten Maschine trugen. Stimmen drangen in ihre Ohren.
“Vorsicht, die Beine…”
“Wir brauchen einen Verband, so schnell wie möglich…”
“Warum die auch alles immer anfassen müssen.”
“Wirklich? Yacinda von den Wellen?…”
“Da kann ich nichts mehr machen. Lasst sie liegen.”
“In dem zerstörten Wirtshaus da drüben ist ein Kellereingang hinter dem Tresen”, sagte jemand. “Wein- oder Vorratskeller, so wie es aussieht. Mit etwas Glück ist die Luke gut genug versteckt, und der Keller darunter ist groß und voller Vorräte.”
“Ha. Wer’s glaubt.”
Vherendie wankte ein paar Schritte. Die Schemen in der Nacht verwandelten sich in Personen mit Gesichtern, der Schleier verschwand. Über ihr leuchteten die Sterne und der Mond in den Staubnebel, der über der Stadt lag. Vor ihm trug Vedian mit einem Mann zusammen einen Verletzten; einer hielt die Arme, der andere die Beine. Hinter ihnen halfen zwei Schatten einem anderen Verletzten. Zwei weitere Personen lagen auf dem Boden, und jemand anderes stand daneben.
“He, ich kann helfen”, stammelte Vherendie. “Ich kann-“
Plötzlich spürte sie einen harten Schlag in ihrem Gesicht. Sie konnte fühlen, wie die Brille von ihrer Nase flog. Ein schwerer Körper, etwas Hartes warf sie zu Boden. Würgend fiel sie zur Seite, und kurz darauf schmeckte sie ihre eigenes Blut in ihrem Mund. Ihr Schädel pochte, ihr Herz tobte und ihr Magen krampfte. Dann riss sie die Augen auf, und im Halbdunkel des Mondlichtes konnte sie den augenlosen Helm eines Soldaten sehen, der auf ihr saß und seine Metallfaust zum nächsten Schlag hob. Sie hatte die zweite Wache vergessen. Mit weiten Augen starrte sie auf die rasende Faust, und als der nächste Schlag sie traf, war es, als ob eine Straßenbahn ihren Kopf rammte. Vherendie verlor ihre Sicht an eine rote Dunkelheit, und in ihr loderte grenzenlose Wut auf. Mit aller Kraft hob sie ihre Arme, um den dritten Schlag abzuwehren. Doch die Faust brach mit der grenzenlosen Kraft einer Bestie durch ihre Arme hindurch: Jemand wollte sie töten und stand kurz davor, sein Ziel zu erreichen.
Dann hallte ein Knall durch die Nacht. Das Gewicht des Soldaten fiel von ihr herab. Sie rollte sich auf ihre Seite und griff mit ihren Fingern in die Fugen zwischen den kalten Pflastersteinen. Aus ihren Augenwinkeln sah sie Vedian, der ein Gewehr in seinen Händen hielt. Für eine Sekunde sah er zu ihr; Mund und Augen standen weit offen, als ob er selber nicht glauben konnte, was er getan hatte. Der Soldat hob sich auf die Knie und hob seine freie Hand vor das Gesicht. Vedian legte das Gewehr erneut an und zog am Abzug; ein Schuß folgte und durchbohrte die Schulter des Soldaten.
Wie ein Blinder tastete Vherendie mit ihrer rechten Hand in der Dunkelheit. Metall, Blut, Stein, Holz, Knochen – sie konnte nicht sagen, was sie anfasste, worüber ihre Finger glitten, bis sie ein eiskaltes, schweres Stück Metall fanden und zugriffen. Als sie die schwere Eisenstange in ihrer Hand auf die andere Seite schwang und sich auf die Knie stemmte, spürte sie keine Schmerzen mehr. Sie richtete ihren Oberkörper auf, holte aus und schmetterte die Stange gegen den Helm des Soldaten. Ein Riss zog sich durch das Visier, und der Soldat fiel zu Boden. Vherendie biss ihre Zähne zusammen und holte noch einmal aus. Dieses Mal traf sie das Visier in seiner Mitte und zerschmetterte es. Splitter spritzten ihr entgegen, einer traf sie im Gesicht. Sie zuckte, schrie und schlug noch einmal zu, noch einmal und noch einmal, bis sie keinen Widerstand mehr unter ihr spürte. Als die Wut ihre Arme verließ, keuchte sie und sah auf das, was vor ihr lag.
Das Gesicht im offenen Helm war nur noch ein blutiger Brei. In der Stirn saß ein riesiges, rotes Loch, die Nase war zertrümmert und im unteren Teil lagen Zähne. Vor Schreck ließ Vherendie die Stange fallen. Ihr Klang hallte einsam durch die Nacht, als sie auf den Boden schlug.
Erst jetzt spürte sie, wie das Blut wieder aus ihrem eigenen Mund quellen wollte, und wie der Schmerz tief in ihrem Schädel saß. Sie spuckte auf den Boden. Ihr wurde schlecht, und jede Kraft wich aus ihr. Der graue Vorhang kam zurück; die Nacht verschwamm. Mit zitternden Armen stützte sie sich auf dem Boden ab, bis Vedian ihr um den Hals fiel.
“Bei Andalor, Vherendie!”, hauchte er und drückte sie fest an sich. Seine Hände und Arme, seine Brust, sein Bauch und sein Atem glühten in der kühlen Nacht.
“Vherendie”, sagte er erneut und er hielt sie fest, als ob er sie nie wieder loslassen wollte. “Ich hatte solche Angst!”
Sie antwortete nicht. Sie zitterte und atmete viel zu schnell. Langsam richtete sie ihren Kopf in seine Richtung. Er sah sie an – zumindest glaubte sie das. Selbst in der halben Dunkelheit der Nacht waren seine Augen unvergleichlich hell, fast wie zwei blauen Sonnen, die in der Leere brannten.
“Ich… Ich habe jemanden getötet”, murmelte Vherendie.
Vedian drückte sie fest an sich und flüsterte in ihr Ohr: “Denk’ ja nicht darüber nach, Vherre. Denk’ ja nicht darüber nach.”
07: Anomalie
Scarve Bit starrte auf den Bildschirm, der am Ende des Zeltes stand. Summend warf der Monitor ein kaltes, blaues Licht in den Raum, das erst vor dem gelben Puls des Kartentisches in der Mitte des Raumes zurückwich. Auf der Bildfläche drehten sich verschiedene, schimmernde Kreise in- und auseinander. Textrunen flogen von unten nach oben über das Bild, Kästen füllten sich mit kleineren, dunkleren Kästen.
Seit zwei Stunden versuchte Bit, eine Verbindung mit dem Gottkönig der Mondträne aufzubauen. Er knurrte. Es konnte nicht an der Blockade der Funksignale liegen, denn er erreichte jeden anderen auf der Mondträne, inklusive seiner eigenen Familie. Nein: Wenn er mit dem Weltenmeister sprechen wollte und es keine Übertragung gab, dann wollte der Weltenmeister nicht mit *ihm* sprechen, und das beunruhigte ihn.
Bit wandte sich der leuchtenden Karte in der Mitte des Tisches zu. Wie auf einer Blaupause zeigte sie ein schematisches Bild von Tharamant. Kleine Symbole hetzten zwischen den Umrissen von Gebäuden, Plätzen und Straßen umher; rote Kreise für feindliche Einheiten, blaue Kreise für eigene, blaue Kästen für eigene Sturmschrecken, Dreiecke für Sturmschreiter und Ovale für die Luftschiffe, die am Boden ruhten, um der feindlichen Flugabwehr auszuweichen. Wenn Bit mit dem Finger auf eins der Symbole tippte, blendete die Karte ein Datenblatt ein, das den Zustand der Einheit zeigte: Schaden, Feindbegegnungen, Treibstoffverbrauch und weitere Statusmeldungen. Diese Daten sammelte und verarbeitete das Auge, ein Luftschiff weit über der Stadt, weit über den Wolken; ein Vorteil, den sein Konkurrent nicht hatte, denn Bit und seine Offiziere besaßen den einzigen Zugang zum Auge.
Er stützte sich mit beiden Fäusten auf dem Rand des Tisches ab. Kleine, rote Kreise besetzten die Randgebiete. In der Innenstadt, auf den nördlichen und auf den südlichen Klippen schwärmten blaue Kreise und Kästen durcheinander, doch früher oder später würde Cas seinen Ring enger ziehen und die Stadt einnehmen. Wie viel Zeit Bit noch blieb, wusste er nicht. Cas führte Fahrzeuge in seiner Armee, die eine Gefahr für seine Luftschiffe waren, und Bit wusste, dass er sie ausschalten musste. Wenn er doch nur wüsste, wo sie standen.
Ein blinkendes Licht erschien in seinem Augenwinkel. Im Norden der Karte leuchtete ein blaues Rechteck auf. Er tippte einmal drauf und las folgende Meldung: *Einheit ausgeschaltet. Besatzung ausgeschaltet. Gefangene geflohen.*
Bit runzelte die Stirn. Keine von Cas’ Einheiten war in der Nähe; und von den Einheimischen konnte er nicht erwarten, dass sie einen Widerstand leisteten, der eine Sturmschrecke ausschalten konnte. Er fasste an einen Knopf am Halsteil seiner Rüstung und hielt ihn gedrückt.
“Ta? Hier Bit”, sagte er. Ein Rauschen in seinem Ohr erklang, und die Stimme von seinem Offizier Ta antwortete.
“Ta hier, Eroberer.”
“Ta. Wir haben im nördlichen Sektor H3 eine Sturmschrecke verloren”, sagte er. “Kein Zeichen feindlicher Aktivitäten. Gehe dem bitte nach. Ich schicke dir die Koordinaten; kürzester Weg führt durch den Vilias-Graben.”
“Zu Befehl, Eroberer”, antwortete Ta, und Bit glaubte, ihn salutieren zu hören.
“Danke, Ta. Ich würde Khan, Drit oder Jed schicken, aber die brauche ich an anderer Stelle. Bit Ende”, sprach er. Dann starrte er auf den Kasten, der einsam im Norden der Karte blinkte. Cas war gefährlich genug; wenn jetzt noch die Einheimischen unerwarteten Widerstand leisten sollten, gab es zwei Fronten, an denen er nur schwer gewinnen konnte.
08:Schlafkammer
Ancardia rannte. Jeder Schritt stach bis in ihre Knochen hinein. Ihr Herz klopfte, und die Luft in den Tunneln wehrte sich, durch Nase und Mund zu strömen. Hinter ihr rannte Dahales; er musste so viel mehr an seinem Körper tragen.
Wovor sie davonrannten, das hatte Ancardia nur flüchtig gesehen: Aus einem der Gänge war ein langer Wurm geschossen, groß wie ein Esel oder sogar eine Kuh, mit bleicher Haut, unter der blaue Adern bebten; vorne saß kein Kopf, aber ein rundes Maul voller Zähne, wie bei einem Blutegel; und etwas weiter dahinter sprangen zwei feste, kräftige Beine vom Körper ab, die in drei scharfen Klauen endeten.
Der Tunnel führte abwärts. An den Wänden trugen fette Pilze ihre Hüte und Pelze in allen Formen und Farben. Dazwischen hingen glühende Früchte, die den ganzen Gang in oranges Licht tauchten. Der zerfurchte Boden lag voller Steine, Moose und Pilze, die alle paar Meter an Ancardias Stiefeln kleben blieben. Immer wieder verlor sie den Halt, doch sie wagte es nicht, hinzufallen, denn hinter ihr zischte und sabberte das Tier. Allein das Maul war schon so groß wie Ancardias ganzer Kopf, und so müde ihre Muskeln auch sein mochten, und so gebrochen ihr Geist war: Sie dachte nicht daran, aufzugeben. Nicht so.
Das Biest wurde erst leiser, als sich ein anderer Farbton in das warme, orange Leuchten des Tunnels mischte. Wenige Meter später hörte Ancardia nur noch ein fernes Bellen, und dann zog ein letzter Schrei durch den Tunnel.
Mit kleinen Augen hielt sie ihre Hand vor ihr Gesicht und blieb stehen. Das türkise Licht, das sie schon aus der Halle der Heldinnen kannte, leuchtete ihr entgegen; doch hier strahlte es blasser und lebloser, als ob es einen Friedhof beleuchten wollte, den sogar die Geister schon längst verlassen hatten. Sie keuchte und hustete, dann schnaufte sie und zählte einzelne Sekunden in ihrem Kopf zusammen, um ruhiger zu atmen. Sie fand einen Takt, doch als sie aufsah, vergaß sie, bei welcher Zahl sie stand.
In der Halle, in die sie der Tunnel geführt hatte, hätte die gesamte Kathedrale von Antodun Platz gefunden, eins der größten Bauwerke, die sie kannte. Die Wände hier wuchsen glatt, schwarz und ohne Zierde in die Höhe, glänzend wie poliertes Vulkangestein; in kleinen Einschüben saßen leuchtende Kristalle, doch sie waren länglicher und dünner als die, die sie zuvor gesehen hatten. Sie leuchteten die gesamte Halle aus, nur den Boden nicht, den ein dicker Nebel bedeckte.
“Ich glaube das einfach nicht”, faselte Dahales, während er nach Luft schnappte. “So viel Licht so tief unter der Stadt, so viel Luft, so viel Freiheit in der Erde.”
Er hatte recht. Als Ancardia tief einatmete, kam ihr die Luft so sauber und klar vor wie zuletzt in den Straßen von Tharamant. Sie war außerdem kühl, beinahe kalt in den Lungen, wie Winterluft an einem klaren Schneetag.
Ancardia blickte ins Zentrum der Halle. Hier standen fünf Säulen im Kreis zueinander – fast wie die Kugeln in der Trommel eines Revolvers, den die Stadtwachen in Kinta trugen. Die Säulen hatten jeweils fünf Ecken, waren komplett schwarz und wuchsen bis in die Decke der Halle. Doch erst, als sie näher kam, begriff Ancardia die Größe der Säulen: Sie schätzte, dass sich zwanzig oder dreißig Menschen an den Händen fassen müssten, um eine von ihnen zu umschließen.
Langsam humpelte sie um eine der Säulen herum. Zwischen ihnen war ein riesiger Stern in den Boden eingelassen, dessen fünf Strahlen jeweils auf eine der Säulen zeigten. Auf ihm waberte kein Nebel; stattdessen lag das gleiche Licht auf dem Stern, das sie auch schon in der Halle der Heldinnen gesehen hatte. Schriftzeichen blitzten auf, die sie nicht lesen konnte; und dann erschien in jeder Spitze des Sterns ein Bild, das von lang vergessenen Menschen erzählen wollte. Ancardia drehte sich in der Mitte, um alle Symbole zu lesen: Eine Sonne leuchtete vor ihr; daneben eine Blase mit Schriftzeichen; daneben zwei Noten, verbunden mit einem Balken; dann folgte ein Stift, der ein Bild auf einem Blatt Papier zeichnete; und schließlich ein Herz, das ohne Ton schlug, und schlug, und schlug.
“Was soll das bedeuten?”, fragte Dahales. “Was ist das hier? Grrr. Ich habe es langsam satt, immer diese Fragen zu stellen. Oder zu hören.”
Ancardia nickte und trat auf eine der Säulen zu. Eine dicke Schicht Staub lag auf der schwarzen Oberfläche, und sie fragte sich, wie es unter ihr aussah. Sie wischte einmal mit der Hand über den Fels und fegte den Staub weg. Eine kleine Welle Licht folgte ihrer Hand und verschwand sofort, und dann sah Ancardia ihr eigenes Gesicht: Die Säule schimmerte unter der Staubschicht so glatt, dass sie sich spiegeln konnte. Und sie sah furchtbar aus: Auf ihrem Gesicht klebte eine Schicht Schmutz, so wie auf der Säule der Staub hing; und ihre Haare waren ein furchtbares Durcheinander, das keine feste Form zu kennen schien.
Plötzlich sah sie durch ihr Spiegelbild hindurch und erschrak. Ein offenes Auge blinzelte ihr zu; es konnte nur ein paar Zentimeter unter der Oberfläche liegen. Ancardia schrie auf und wich zurück.
“Ancardia, was ist?”, fragte Dahales. Seine Stimme irrte durch die Halle.
“Da ist ein Auge drin. Es hat mich angeblinzelt.”
“Du machst Witze.”
“Nein, sieh’ es dir an. Da ist ein Auge drin!”, wiederholte sie. Dahales kam zu ihr und starrte in die schwarze Säule hinein.
“Tatsächlich”, sagte er. “Ein Auge.” Er wischte weiteren Staub hinweg, und neben dem ersten kamen weitere Augen zum Vorschein. Sie erinnerten Ancardia an die von Krokodilen, und alle blinzelten, in verschiedenen Takten.
“Ich verstehe das nicht”, sagte sie und ging einen Schritt zur Seite. Sie glaubte, dass die schlanken Pupillen ihr folgten. “Ich verstehe das einfach nicht.”
“Ich auch nicht”, sagte er. “Noch weniger als du. Immerhin bist du viel klüger als ich.”
Sie sah ihn an und wusste nicht, was sie sagen sollte. Dann lächelte sie.
“Hör’ zu”, sagte sie und deutete auf den Stern. “Ich habe eine Idee; diese Symbole haben vielleicht mehr mit unserer Geschichte zu tun, als eigentlich sein kann.”
Sie sah ihn an.
“Um das Jahr 850 begann die Epoche der Freikünstler”, sprach sie. “Vorher war Kunst Auftragssache, meistens im Sinne der Reichen und Mächtigen; doch die Freikünstler schufen ihre Werke ohne Auftrag und verkauften sie danach an das Bürgertum, wenn es denn Interesse gab. Heute ist das nichts besonderes mehr, aber damals war es eine kleine, intellektuelle Revolution.”
Dahales nickte und sah auf den Stern hinab.
“In dieser Bewegung kam es dann, dass sich die Freikünstler von den alten Konventionen ihrer Zeit befreiten”, fuhr sie fort. “Und so formulierten sie das Senever Manifest, nach welchen sie ihre Werke schufen. Oder auch nicht, du weißt ja, Kunst ist frei und so und bricht gerne die eigenen Regeln.”
Sie deutete auf die einzelnen Symbole in den Spitzen des Sterns. “Licht”, sagte sie und begann mit der Sonne, um dann auf die Sprechblase, die Noten, die Zeichnung und das Herz zu zeigen. “Wort, Klang, Bild und Liebe. Dabei spielt es keine Rolle, welche Art von Kunst du machst: Ob du Musik komponierst, ein Buch schreibst, oder ein Bild malst, all diese Elemente fließen in dein Werk mit ein.”
“Und wenn ich koche?”, fragte er und hob eine Augenbraue.
“Natürlich, dann auch”, sagte sie und lächelte. “Das Problem ist: Diese Halle muss sehr viel älter sein als das Manifest. Sie kann nicht erst fünfhundert Jahre alt sein.”
Dahales sah sich um und nickte.
“Und was noch seltsamer ist”, murmelte sie, “ist, dass wir hier in Tharamant ein sehr ähnliches Symbol haben. Inklusive der Formen auf dem Boden.”
Plötzlich fiel es Dahales ein.
“Verdammt, Ancardia, du hast Recht!”, rief er aus. “Die fünf Eckpfeiler Tharamants auf dem Rathausplatz: Gold, Stärke, Mut, Hoffnung und Freundschaft. Wie konnte ich das nur übersehen?”
Vor ihrem inneren Auge tauchten die riesigen, fünfeckigen Bronzeplatten auf, die in den Boden des Rathausplatzes eingelassen waren und dort einen Stern formten.
“Ich weiß es nicht”, antwortete sie und starrte an die Decke. “Vielleicht stehen wir jetzt gerade direkt unter dem Rathausplatz. Vom Durchmesser der Säulen könnte es passen.”
“Wir sind den ganzen Weg zum Rathausplatz gelaufen?”, fragte er mit weiten Augen. “Unglaublich.”
“Wenn es stimmt”, erwiderte sie und blickte zur Decke, die irgendwo weit über ihr in der Dunkelheit verschwand. Dann blickte sie erneut zur Säule, in der sie die Augen entdeckt hatte. “Die Freikünstler hatten ihr eigenes Lied, sagt man. Nur noch der Text existiert.”
“Weißt du was davon?”
Sie schloss kurz ihre Augen. Dann sagte sie: “Nur einen kleinen Teil.”
<center>”So man uns gebar, um allein zu zieh’n,
<center>wir kehren nicht mehr zurück.
<center>Schrei doch, wie ungerecht das ist;
<center>Du bist allein, du bist alles.”
“Ziemlich niederschmetternd, finde ich”, sagte Dahales und wischte mit seinem Fuß den Nebel bei Seite, der um seine Stiefel herumkroch.
“Künstler halt”, murmelte Ancardia. “Die Freikünstler waren der Ansicht, dass sie nur alleine Kunst schaffen könnten, wenn niemand ihnen hilft. Einsame Wölfe, und Kunst als Selbstausdruck kann nur von einer einzelnen Person, niemals von mehreren Künstlern kommen, und so weiter. Hast du schon einen Ausgang gesehen?”
“Ja. Folg’ mir.”
Sie schritten an den Säulen vorbei, die wie uralte, astlose Bäume tief im Erdkern wurzeln mussten. Am Ende der Halle konnte Ancardia einen Tunnel ausmachen; ein weißes Licht umrandete ihn.
“Ich weiß nur nicht, ob wir weiter sollten”, sprach er. “Der Wurm ist uns hierher nicht gefolgt – vielleicht hat er Angst vor diesem Ort.”
“Wenn *er* Angst vor etwas hat, dann sollten wir das vielleicht auch haben”, antwortete sie. “Aber früher oder später müssen wir weiter. Wir können hier nicht bleiben.”
Plötzlich bellten viel zu viele Stimmen. Aus dem weißen Tunnel vor ihnen quollen dunkle Schatten, die sich umeinander wanden wie ein Eimer voller Regenwürmer. Die Schritte der Würmer schmatzten über den Boden, als ob sie durch ein Wattmeer staksten, und der Speichel lief aus ihren röhrenden Mäulern.
“Ich korrigiere”, sprach sie. “Er hatte keine Angst. Er hat den Schwarm geholt.”
“Dieses Scheißviech!”, stöhnte Dahales auf. Ancardia blickte zum Tunnel: Im Licht der Halle schienen die Würmer kleiner, aber bestimmt doppelt so hässlich. Einige krabbelten wie zweibeinige Ameisen an den Wänden entlang, weil sie im Hauptstrom, der aus dem weißen Tunnel floss, keinen Platz mehr fanden. Einige Würmer trugen größere Gebisse als die anderen, andere hatten größere Klauen oder längere Schwänze, die in knochigen Sicheln endeten.
“Wir sollten vielleicht durch den gelben Tunnel zurück”, schlug Dahales vor und drehte sich um.
“Er ist orange”, entgegnete Ancardia und warf einen letzten Blick auf den geifernden Schwarm, bevor sie ihm folgte.
09: Nebelbilder
Die Welt verschwamm vor ihren Augen, verschmolz mit dem Himmel, dem Feuer und dem Rauch. Unter ihren Armen spürte sie die Hände der anderen. Ihre Füße fanden Halt am Boden, doch die Beine wollten ihren Körper nicht tragen. Irgendwer trug sie über eine knackende Treppe in die Dunkelheit. Leere Flaschen rollten klirrend über blanke Steine, während die Stimmen der anderen die stille Luft verdarben.
“Hattest du nicht gesagt, dass es hier Vorräte gibt?”, fragte Vedian und hustete.
“Ich habe mich geirrt”, antwortete eine andere Stimme.
Vherendie sah sich um. Der Riss in ihrer Brille wanderte durch den dunklen Keller. Ein paar Kerzen erhellten die Wände und verloschen bald wieder. Zwei verletzte Menschen waren wach, zwei andere nicht. Ein Mann versorgte sie. Er eilte auf Vherendie zu und griff mit seinen dünnen Fingern unter ihre Arme, als sie die Kellertreppe hinunterhumpelte.
“Wie geht es ihr?”, fragte er. Es war die Stimme des Mannes, der gefragt hatte, ob sie bescheuert wäre. “Und was war da draußen eben los?”
“Wir haben eine Wache übersehen”, knurrte Vedian.
Der Mann nickte. Vherendie fiel nach hinten, landete aber nicht, weil jemand sie immer noch festhielt. Die Männer legten sie auf ein Tuch nahe der Wand. Sie fühlte sich, als wäre sie wie eine Flasche, die man auf die Seite legt; das Blut in ihrem Körper schien von ihren Füßen in den Kopf zu fließen, aber nur in die Hälfte, die am Boden lag. Vor ihren Augen tanzten kleine, weiße Lichter, und in ihrem Mund gammelte der Geschmack von Eisen. Ihre Haut brannte, überall, doch vor allem im Gesicht.
“Feyhen Yhorarie, nebenbei”, stellte sich der Mann vor. Sie sah den Schemen einer Hand, den er Vedian reichte. “Ich bin Arzt, oder war es zumindest bis heute Mittag noch.”
“Ist das nicht ein Mädchenname?”, stöhnte Vherendie. Feyhen sah einmal zu ihr, dann schüttelte Vedian ihm die Hand.
“Vedian Bordakane”, sagte Vedian müde, dann deutete er auf den Boden. “Das da ist Vherendie Sela. Wir arbeiten zusammen.“
“Vedian Bordakane?”, fragte Feyhen. “*Der* Vedian Bordakane, oder? Ich hatte ihr Buch in meinem Büro.”
“Ich signiere Ihnen später etwas”, brummte Vedian. “Wir können hier unten fast schon ein Berühmheiten-Kabinett aufmachen. Da hinten sitzt Yacinda von den Wellen. Ihr Autogramm wird später mal mehr wert sein als meins.”
Die Stimmen klangen aus der Ferne zu Vherendie, dumpf, als ob ihre Ohren unter Wasser schwebten. Sie fühlte, wie jemand an ihrem Bein herumspielte und das Hosenbein nach oben zog. Etwas anderes versuchte, sie in den Schlaf zu ziehen; doch sie konnte nicht schlafen. In ihrem Kopf leuchteten Feuer, Stahl und Blut.
“Wir müssen hier weg”, hauchte sie. Nur die Dunkelheit hörte sie.
“Wer immer diese Monster sind, ich habe Angst, dass sie herausfinden wollen, warum ihre Maschine keine Gefangenen mehr bringt. Soll heißen: Sie kommen bestimmt bald wieder”, sprach jemand.
Vherendie nickte.
“Darum sind wir in diesem Keller”, erklärte eine andere Stimme und hustete. “Ich gehe gleich nach oben und sorge dafür, dass oben auf der Luke ein paar lose Steine und Bretter drauf liegen, damit niemand auf die Idee kommt, dass hier unten Menschen sein könnten.”
“Gute Idee. Ich kümmere mich um die Verletzten. Ich brauche etwas Stoff, um ein paar Wunden zu verbinden. Und Alkohol, zur Desinfektion.”
“Vedian könnte sich ausziehen”, schlug Vherendie vor.
“Das da oben war ein Wirtshaus”, sagte Vedian zu Feyhen. “In irgendeinem Schrank haben sie bestimmt Tischdecken oder andere Tücher.”
Vherendie schloss erneut die Augen und gab sich der Schwärze hin. In ihrem Kopf rannten die Gedanken durcheinander; was hatte sie gerade gesagt? Durch ihre Muskeln strömten Brände, und ihr Bauch tat weh, weil der Soldat mit seinem Knie auf ihm gesessen hatte; ihr Schädel hämmerte und ihr Rücken zerrte an ihr, als wollte die Wirbelsäule aus ihrem Körper springen. In der Dunkelheit erschien die Stadt, grau und tot; brennende Männer und Frauen rannten durch die Straßen und verschwanden im Nebel. Dunkle Schatten krochen ohne Beine aus den Kratern, die in den Straßen schwelten. Über die Trümmer stiegen schlanke Soldaten und schossen einzelne Kugeln in die Köpfe derer, die am Boden lagen. Zerschossene Wände und Türme ragten wie die Rippen gestrandeter Wale in den blutroten Himmel, und zwischen den Wolken hingen heulende, schwarze Luftschiffe. Schwarzer Schnee fiel auf die Stadt hinab, und schließlich verschluckte der Nebel den Himmel, und die bleichen Wolken wirbelten wie in einem Strudel umeinander her. Sie formten erst einen Schädel, dann ein Gesicht, in dem große, weite Augen saßen, die mit Schrecken in die Leere starrten. Das Gesicht endete mit dem Oberkiefer – die untere Hälfte fehlte fast vollständig. Nur die Fetzen einer schwarzen Zunge zuckten wie zerrissene Tentakel über den Himmel und griffen nach Vherendie.
Sie erschrak und wachte auf. Der Keller lag auf der Seite. Aus der Ferne drangen der Klang von Feuer und leise Stimmen in ihre Ohren. Feyhen, Vedian und die anderen saßen um den schwachen Glanz eines Feuers herum. Ansonsten war es dunkel – nicht dunkel wie in einer Nacht, in der ein voller Mond leuchtet, sondern dunkel wie in einem Keller.
“Seid ihr bescheuert?”, rief sie. Mit klopfendem Herzen schreckte sie hoch. “Ein Feuer, hier unten?”
“Das ist kein Feuer, Vherendie”, sprach Vedian. Seine Stimme klang schwer und warm. “Das ist nur eine kleine Laterne, und der Kessel ist wahrscheinlich irgendwann im Laufe des Tages explodiert. Ich vermute mal, das Gaswerk ist zerstört worden und hat dabei die halbe Stadt in die Luft gejagt.”
“So viel also zur durchdachten Planung der Stadt”, stöhnte Vherendie und versuchte, sich auf irgendetwas zu konzentrieren. Doch die Welt verschwamm noch immer vor ihren Augen, während die Stimmen dumpf durch den Keller graunten. Ein Verletzter stöhnte. Vherendie winkelte ihre Beine an. Feyhen, der junge Arzt, sah auf seine Armbanduhr, die ihn bestimmt ein Vermögen gekostet haben musste. Sein Gesicht war dreckig; seine Augen strahlten eisblau, selbst im Halbdunkel, und es sah fast so aus, als ob er keine Augenbrauen hätte.
“Jetzt haben wir also den ersten Tag überstanden”, sprach er, und niemand wusste so recht, ob er aus Horror oder Erleichterung sprach.
“Morgen werden sie mich kriegen”, flüsterte jemand, aber es konnte trotzdem jeder hören. “Noch so einen Tag werde ich nicht überleben.”
Vherendie drehte sich auf ihren Rücken und starrte in die Dunkelheit.
“Diese Stadt… Es ist nichts mehr da”, sagte Feyhen und schüttelte den Kopf. “Nach allem, was ich gehört und gesehen habe, waren es vor allem die Gasexplosionen. So viele Menschen haben sich in den Kellern versteckt. Und natürlich gab es in ganz Tharamant keine Sicherungen in den Leitungen. Nur bei den ganz reichen Häusern.”
Vedian stöhnte auf.
“Ich wusste schon immer, dass mich diese Stadt krank macht”, fügte Feyhen hinzu. “Aber dass sie eine Todesfalle ist, hätte ich nicht gedacht.”
“Es hat niemand gedacht”, antwortete Vedian kraftlos. “Heute morgen war ich noch Professor für Alternative Geschichte, und ich dachte, das bleibt immer so.”
Feyhen nickte.
“Richtig”, murmelte Vherendie und schloss die Augen. “Wir dachten, es bleibt immer so.”
Niemand hörte sie.
10: Schwarmgrab
Ancardia schnappte nach Luft und biss die Zähne zusammen. Jeder einzelne Schritt stach aus ihrem Bein in ihr Herz empor, und ihre Augen füllten sich mit Tränen.
Sie rannte an bleichen Pilzen und Flechten vorbei, zwischen denen pralle, transparente Kürbisse leuchteten. Hinter ihr verschluckte der Schwarm jeden ihrer Schritte – er sabberte, keifte und bellte, zischte und kreischte und riss dabei die Pflanzenwelt von den Wänden. Ancardia konnte beinahe hören, wie sich die einzelnen Tiere gegenseitig auf die Köpfe stiegen, damit sie vor allen anderen das Menschenbuffet erreichten.
Vor ihr hechtete Dahales mit viel zu weiten Schritten bergauf, hinein in die Höhle, die in die Halle der Heldinnen führte. Hier lag ein anderer Beinwurm auf dem Boden, und vielleicht war es der, der sie vorher in die anderen Tunnel getrieben hatte. Doch bevor er bemerkte, dass zwei Stück Frischfleisch an ihm vorbeiliefen, stürzte Dahales schon in den nächsten Gang. Ancardia folgte ihm und rannte in den nächsten Tunnel. Warmes, rotes Licht leuchtete hier zwischen den Pilzen hervor, und dicke, durchsichtige Wurzeln zogen sich durch die Wände, als ob sie Adern wären. Sie weiteten und schlossen sich in einem wilden Takt, und Ancardia glaubte, den Puls eines Herzens zu sehen, das tief im Inneren der Erde schlug. Müde hob sie ihr kaputtes Bein über einen matschigen Pilz, der am Boden wucherte, dann trat sie in etwas hinein, das wie ein Pfütze klang. Sie rutschte aus und fiel nach vorne, zog ihr anderes Bein hinterher und fing den Sturz mit einem Schritt auf, der an den Muskeln in ihrem Oberschenkel riss. Von nun an schmerzten beide Beine, und müde waren sie ohnehin.
Ancardia sah nach vorne. Da war es wieder, das blasse Licht mit der grünblauen Note. Es schimmerte bleich am Ende des Tunnels, der so weit schrumpfte, dass die Pilze von der Decke in ihre Haare hineingriffen. Vor ihr blieb Dahales stehen, drehte sich um und schob sich an ihr vorbei, bis er hinter ihr stand und ihr den Rücken zukehrte. In ihren Ohren tobte der Schwarm.
“Was soll das?”, keuchte Ancardia.
“Mir reicht es”, ächzte er und holte tief Luft. Er schien Mühe zu haben, die einzelnen Satzteile aus seiner Lunge zu pressen. “Wir brauchen Zeit… Um zu überlegen… Wie wir überleben. Geh’ zur Seite!”
“Was verdammt noch mal tust du da?”, rief sie.
Er schloss die Augen und fasste an die Wände. Hinter ihm kreischte der Schwarm wie aus einem einzelnen Schlund.
“Dahales, was soll das!”, rief sie. “Du bringst dich um!”
Ein Lichtblitz zuckte durch den Tunnel. Steine lösten sich in groben Klumpen. Pilze fielen herab. Vor ihren Augen verschloss sich der Tunnel und verschwand in einem Schwall aus Staub und Sporen. Plötzlich sprang ihr Dahales hustend entgegen. Ancardia fragte sich, wie er es mit seinem schweren Körper nur schaffte, so agil zu sein.
“Komm’ mit!”, schnaufte er und schob sich an ihr vorbei. Am Rand ihrer Augen glaubte sie zu sehen, wie Blut über seine glänzende Stirn lief, doch bevor sie es wusste, rannte er weiter durch den Tunnel. Sie folgte ihm.
“Toll, du Genie!”, schimpfte sie zwischen ihren eigenen Schritten. “Du hättest sterben können! Oh, und wenn das hier eine Sackgasse ist, dann werden wir hier unten verhungern und verdursten!”
“Hast du… Dir mal die Zähne… Von den Viechern angesehen?”, keuchte er.
Sie biss ihre eigenen Zähne zusammen und lauschte. In der Ferne verschwanden die Laute der Würmer. Weitere Steine krachten von der Decke auf den Boden. Der Tunnel hinter ihr rumpelte und grollte, doch vor ihr öffnete er sich und ging in eine andere Halle über. Sie war nicht so groß wie die letzte, aus der sie gekommen waren – und sie war auch nicht mehr so intakt. Über die Wände zogen sich lange Risse, und die Decke war bloßer, unbehauener Höhlenstein, von dem klobige Stalaktiten herabhingen. Der Boden versuchte, eine flache Ebene zu formen, doch an vielen Stellen brachen Felsstücke aus ihm heraus, die sich über den umgebenden Stein erhoben. Auf ihm standen hüfthohe, fünfeckige Steinsäulen im Raum, aufgestellt in langen Reihen, wie die Soldaten einer schweigenden Armee. Das Licht spiegelte sich in ihnen, und vor den Steinen ruhten kleine Platten im Boden, auf denen uralte Schriftzeichen prangten.
“So langsam reicht es mir”, schnaufte Ancardia und stützte sich mit ihren Händen auf die Oberschenkel. “Wir haben’s verstanden. Hier haben Menschen gelebt.”
Dahales schwieg und versuchte, einen ruhigen Atem zu finden. Ancardia spürte, wie ihr Herz Blut und Luft durch Beine und Füße pumpte, während die Nässe auf ihrem Rücken noch lange nicht trocknen wollte.
“Hier unten wurde gelebt”, wiederholte sie und sog die kalte, muffige Luft der Höhle in ihre rasselnden Lungen. “Und ich will nur noch nach Hause. Wenn mir das da oben passiert wäre… Ich wäre Chefredakteurin. Auf Lebenszeit. Ich müsste nie mehr um meinen Arbeitsplatz kämpfen. Die… Entdeckerin einer… Verschollenen Zivilisation.”
Sie wandte sich ab und sah in die Mitte der Halle. Dort entdeckte sie einen Bereich, in dem fünf kleine Steinsärge standen, und in ihrer Mitte stand etwas, das wie ein Altar aussah.
“Was ist das denn?”, fragte Dahales, der seine Beine und Arme ausschüttelte, als ob er glaubte, die Müdigkeit aus ihnen treiben zu können.
“Wenn ich das wüsste”, sprach Ancardia und stieg über eine kleine Felskante, die aus dem Boden wuchs. “Vielleicht ein Altar oder so. Weißt du, vergiss’, was ich vorher gesagt habe. An manchen Tagen würde mich interessieren, welcher Gottheit er wohl gewidmet war, oder welchem anderen Zweck er sonst diente… Doch *heute* interessiert mich nur, ob es hier wieder ein paar Lichter gibt, wenn ich ihn anfasse; und ob sie eine Karte zeigen oder einen Fahrstuhl an die Oberfläche aktivieren oder irgendetwas tun, damit wir aus dieser Hölle herauskommen.”
Dahales folgte ihr.
“Es ist ein Grab”, sagte er. “Ich bezweifle, dass wir hier etwas finden, das uns helfen kann.”
“Ich auch”, erwiderte sie. “Aber vielleicht steckt ein Schwert in dem Altar. Oder zwei Schwerter.”
“Kannst du mit einem Schwert umgehen?”, fragte er. Ancardia drehte sich zu ihm um.
“Nein. Aber du kannst es, Schatz.”
Sie trat in den Sargkreis. Der Altar in ihrer Mitte war voller Gravuren, Risse und Kratzer. Als sie ihn anfasste, geschah nichts. Der Raum blieb still, die Lichter blieben hell. Sie strich mit ihren Fingern über die staubige Fläche, tippte immer wieder einzelne Zeichen an und spürte die Kälte, die im Stein ruhte.
“Na toll”, sagte sie und wischte den Staub an ihrer Hose ab. Als sie sich abwenden wollte, fiel ihr ein Bild auf, das jemand mit tiefen Fugen in den Altar gemeißelt hatte. Es lag in der Mitte der Fläche und zeigte das Portrait einer Frau, die keinen Unterkiefer trug. Ihre Haare lagen wild vor ihrem Gesicht und verbargen einen Teil der zornigen Augen, die erschreckend tief in Ancardia hineinblicken wollten.
Doch der Blick hielt nicht lange. Plötzlich sah Ancardia einen Schwall aus Blut und Schleim, der sich auf sie stürzte. Sie schrie, hob ihre Hände und stolperte nach hinten, bevor sie sich vor dem schützen konnte, was ihr entgegensprang. Warme, klebrige Nässe fiel über sie her, und als sie zitternd ihre Augen öffnete, sah sie etwas, das auf dem Altar lag: Es schrie und wand sich wie eine kopflose Schlange, während es immer wieder versuchte, auf seine zerschmetterten Beine zu steigen.
Ein Beinwurm.
Ancardias Herz klopfte. Panisch sah sie an die Decke. Aus einem Loch zwischen scharfkantigen Stalaktiten krabbelten weitere Beinwürmer wie Ameisen aus einem Bau. Der nächste fiel nicht weit vom Altar entfernt auf den Boden, auf dem er wie ein praller Weinschlauch zerplatzte; es klang wie nasser Matsch, den man an eine Wand wirft. Dann schallte ein Kreischen aus dem Teil der Halle, der vor ihnen lag. Der Schwarm quoll hier aus einem Tunnel, und weitere Würmer tropften von der Decke herab. Es war zu spät.
“Kannst du uns schützen?”, fragte sie, blickte zu Dahales und nahm seine Hand. Seine Finger waren kalt und nass, und seine Augen starrten weit und leer dem Schwarm entgegen. “Bitte sag’ mir, dass du uns schützen kannst.”
Die Würmer schlossen einen Kreis um sie, wie Wölfe, die ein altes, müdes Tier umstellten. Sie stiegen übereinander, kletterten die Wände hinunter und tropften solange auf den Altar, bis sie beim Aufprall nicht mehr starben, weil die Reste ihrer Brüder ihren Fall bremsten. Im hinteren Teil des Schwarms sah Ancardia einen Wurm, der viel längere Zähne als die anderen trug; zwischen ihnen hing ein kleinerer Beinwurm. Ein anderer peitschte zwei lange Schwänze umher, und Ancardia sah einen weiteren, der mit zwei Mäulern umherschnappte, aus denen der Geruch von Speichel, Schweiß und Fäkalien stieg.
“Dahales, schnell!”, rief sie, doch da war es schon zu spät. Ein Maul sprang auf sie zu und rammte seine Zähne in ihre Brust. Mühelos stachen sie durch ihr schweißnasses Hemd und bohrten sich in ihr Fleisch, hielten es eng umklammert. Ancardia schrie und taumelte, dann sah sie einen Lichtblitz: Das Hinterteil des Wurmes stürzte hinunter, Blut spritzte auf sie herab, und der Biss lockerte sich. Sie stieß das Ding von ihr, doch das nächste sprang hervor, ein großes Tier mit kleinem Maul. Es biss an die gleiche Stelle, Ancardia schrie erneut, und ihr Bauch zog sich zusammen. Der Wurm stellte sie mit seinem Maul erst auf die Füße und hielt sie dann wie eine Trophäe nach oben. Ancardia glaubte, ihr eigenes Blut riechen zu können. Dann stachen weitere Zähne in ihren Rücken, und bevor die Welt in verschwommener Dunkelheit verschwand, schrie sie, wie sie noch nie in ihrem Leben geschrien hatte.
11: Verlust
Scarve Bit starrte auf die weichen Lichter, die vom Kartentisch in das Kommandozelt strahlten. Kästen, Dreiecke und Kreise schwirrten zwischen den bleichen Linien, die die Grundrisse der Stadt zeichneten, wie sie das Auge über den Wolken sah.
Hastig tippte Bit auf eine Gruppe blauer Kreise, dann auf die Ruine eines Büroturms, der an der Ecke einer Kreuzung stand und in der sich der Trupp verschanzen sollte. Bald sollte der Morgen beginnen, und anders, als Bit es geplant hatte, war die Schlacht noch nicht gewonnen. Seine Truppen verloren Soldaten und ihre Speichersteine – den einzigen Weg, gefallene Soldaten wieder ins Leben zu rufen. Er selber konnte nicht schlafen, und die Müdigkeit fraß an seinem Körper, während er einen faden Schluck Wasser aus einer Flasche trank und an den Bildschirm am anderen Ende des Zeltes trat. Noch immer konnte er keinen Kontakt zum Weltenmeister aufbauen, doch es bereitete ihm keine Sorgen mehr. Stattdessen machte es ihn wütend.
Er zeigte auf ein paar Runen auf dem Schirm. Auf der Bildfläche erschienen die dunklen Bilder einiger Bordkameras, während in seinem Ohr Funksprüche rauschten. Im Hintergrund konnte Bit brummende Motoren hören, und klirrende Schritte, die auf dem Straßenpflaster aufsetzten. Eine der Maschinen warf den grellen Lichtkegel ihrer Scheinwerfer über eine umgestürzte Kutsche, über die sie dann mit langen Schritten hinüberkletterte. Das Kamerabild wackelte und zitterte.
“Welcher junge Mann träumt denn nicht davon, in drei Metern Höhe über das Feld des Sieges zu schreiten?”, sprach eine Stimme aus den Lautsprechern. “Ist doch kein Wunder, dass die jungen Rekruten immer zum Schreiterkorps wollen.”
“Wir müssen *Götter* für die Eingeborenen sein”, erwiderte eine andere Stimme, die etwas klarer in Bits Ohr drang.
“Männer, wir sind vor dem Vilias-Graben”, sagte Ta, einer von Bits obersten Offizieren. Auf dem Bildschirm konnte Bit mitverfolgen, wie er die Straße und den Graben vor ihm ableuchtete.
“Keine feindlichen Einheiten auf dem Schirm”, meldete die zweite Stimme.
“Alles frei”, sprach die andere. “Vorausgesetzt, das Auge lehnt sich nicht gerade zurück. Leite Energie auf die Sensoren um.”
“Negativ, wir sind sonst zu langsam”, sagte Ta.
Bit nickte und verfolgte auf dem Bildschirm, wie der Trupp in die Vilias-Schlucht trat. Die groben Felswände wuchsen in der Dunkelheit endlos in die Höhe, und in ihrer Mitte staubte eine breite Straße wie ein ausgetrocknetes Flussbett. An beiden Seiten standen kleine, ineinander verschachtelte Häuser, die das Bombardement verschont hatte.
Obwohl die Straße Platz für alle drei Schreiter bot, war Bit der Weg zwischen den Felsen zu eng. Die Wände lehnten sich fast schon in die Schlucht hinein, als ob sie den kleinen Trupp zerschmettern wollten.
“Fahrzeugwrack gesichtet, zeigt mein Schirm. Entfernung 4,5 Kilometer”, rauschte die erste Stimme, als sie an einer Reihe Säulen vorbeigingen, die den Fußweg von der Straße abgrenzten. Bit blickte zum Kartentisch und runzelte die Stirn. Da war kein Wrack. Der blaue Kasten, den Ta für ihn untersuchen sollte, war verschwunden.
“Sturmschrecke”, fügte die Stimme hinzu.
Still schritten sie durch den Graben. Der Mond stand am Himmel, aber die Felswände versperrten den Blick auf ihn.
“Ich wette, es ist nur ein technischer Defekt”, murmelte die erste Stimme schließlich. “Es kann nicht sein, dass wir einen Verlust haben – Cas ist noch nicht in der Stadt.”
Ta wartete einen Moment, bevor er antwortete.
“Ich wäre da nicht so sicher”, sagte er schließlich. “Die Primitiven können Wege gefunden haben, mit unseren Waffen umzugehen.”
“Dazu müssten sie erst einmal eine unserer Waffen erbeuten”, erwiderte die erste Stimme. “Und wir haben bisher keine Meldung, dass dies geschehen ist.”
“Sie wollen auch nicht, dass es ein Verlust ist, oder?”
“Mit Verlaub”, rauschte die Stimme. Sie zögerte etwas. “Ich bin besorgt. Mein Bruder steuert ‘ne Sturmschrecke. Darum will ich, dass wir nur einem technischen Defekt nachgehen und keiner Kampfhandlung.”
Bit tippte auf das Bild, das die Bordkamera an der Maschine von Ta zeigte. In der linken Hälfte des Schirms erschien eine Karte: Sie zeigte das, was die Maschine von Ta mit ihren Sensoren spürte. Bit biss die Zähne zusammen und sah auf den Kartentisch – beide Karten glichen sich bis auf den letzten Umriss, mit einer Ausnahme: Die, die der Tisch zeigte, verschwieg das Wrack. Etwas stimmte nicht.
“Ta”, murmelte Bit. “Ta, bitte kommen. Notfall.”
Bit hörte keine Antwort. Auf dem Bildschirm sah er, dass sie der gefallenen Sturmschrecke schon näher gekommen waren. Die Straße ging nun in eine Kurve über, die aber weiterhin bergauf führte. In ein paar hundert Metern sollten laut Karte die Felswände schrumpfen, bis sie ganz verschwanden und die Straße an einer Kreuzung endete. Bit blickte auf den Bildschirm: Über Tas Position zeigte die Karte eine Eisenbahnbrücke. Die drei kleinen Dreiecke seines Trupps erschienen unter ihr.
“Ta, melden Sie sich”, knurrte Bit und tippte auf ein paar Runen, die am Rand des Bildschirms hingen. “Ta, verdammt nochmal!” Seine Stimme verhallte ungehört in der leeren, kalten Luft des Zeltes.
“Ich kann Ihre Sorge verstehen”, sprach Ta. “Und auch ich hoffe, dass wir Ihren Bruder nicht im Wrack finden. Von der emotionalen Belastung einmal abgesehen brauchen wir unsere Stärke für kommende Schlachten.”
“Kommende Schlachten?”
“Ja. Tharamant ist nur der Anfang, wenn das so weitergeht. Wir… Moment. Da stimmt etwas nicht. Wir sollten in Sichtweite sein.”
Plötzlich tauchten auf der Karte rote Kreise, Dreiecke und Kästen auf. Bit erschrak.
“Ta! Verdammt, Ta!”, schrie er. “Löschen Sie die Scheinwerfer und rennen Sie!”
Das Licht der Scheinwerfer glitt über eine leere Straße. Bit packte den Schirm und drehte an den Knöpfen, rüttelte an Kabeln und drückte Schalter. Er ballte seine Faust.
“Wir werden angegriffen!”, rief eine Stimme aus den Lautsprechern. Es rauschte. Auf dem Bildschirm sah Bit, wie Ta die Lichtkegel seiner Scheinwerfer wild umherwarf und die leblosen Gebäude nach Lichtern und Schatten absuchte. Er hörte zischende Schüsse, dann sirrte etwas durch die Luft und traf den Treibstofftank des Gefährtes neben Ta. Auf der Karte blinkte ein blaues Dreieck.
“TA! Machen Sie, dass Sie da wegkommen!”
Das Kamerabild wackelte. Die Explosion warf Tas Läufer von den Beinen. Die Kabine scheuerte über den Boden, und Bit konnte nicht mehr sehen, wo oben und unten war. Durch die Linse zogen sich ein feine Risse, und eine blinkende, rote Liste auf seinem Bildschirm zeigte an, welche Teile des Läufers beschädigt waren: Waffen, Sensoren, Reaktor, Motor, rechtes Bein.
Der Reaktor, dachte Bit. Wenn der explodiert, tötet er Ta und schmilzt seinen Speicherstein.
Dann hörte er etwas, das klang, als ob jemand an einem Gurt zerren würde. Etwas rauschte durch die Luft. Es krachte, und durch den Lichtkegel des Scheinwerfers schossen Steine und Staub. Ein weiterer Knall warf das Bild auf ihren Rücken. Die Kamera blickte in den Himmel und sah den Schemen der Eisenbahnbrücke, die über die Schlucht führte; von ihr herab schossen die Angreifer.
“Die Brücke. Cas kommt über die Brücke!”, rief Ta aus dem Lautsprecher. Dann verschwanden Bild und Klang.
12 Heldenlüge
Vherendie lag auf dem Boden und dachte nach. Sie wusste nicht mehr, welchen Wert sie noch in dieser neuen Welt besaß. Ihr Wissen, daran glaubte sie fest, war fortan nutzlos. Alles zerfiel vor ihren Augen – sie hatte ihre Lebenszeit verschwendet, fünfundzwanzig Jahre lang. Wenn ihr nun ein Trümmerteil auf den Kopf fallen sollte, dann half es ihr nicht, die Abtrittsjahre der letzten Könige von Gadagor zu kennen, oder den Ablauf der Yoldheimer Belagerung, oder den Einfluss der alâonischen Freikunstbewegung auf die sozialen Revolutionen in Efortem und Kinta.
Niemand brauchte ihr Wissen; niemand brauchte sie. Und vielleicht war es schon immer so gewesen. Ihr fiel in diesem Moment ein altes Gedicht ein. Vielleicht war es auch ein Lied, sie wusste es nicht mehr.
“So man uns gebar, um allein zu zieh’n,
wir kehren nicht mehr zurück.
Schrei doch, wie ungerecht das ist;
doch du bist allein, immer allein, niemals daheim.”
Sie sah zu Vedian, der in einer Ecke saß und still in die Gaslaterne blickte. Seine Brauen hingen schwer an seiner Stirn, und was in seinen Augen stand, konnte sie nicht lesen. Manchmal sah es aus, als ob er nachdenken wollte, dann aber schien er mit offenen Augen zu schlafen. Sie bildete sich ein, seinen Puls sehen zu können, der wild schlug und aus seiner engen Ader in die Freiheit springen wollte.
Immer wieder flogen müde Geister über Vherendie hinweg. Sie gähnte und wollte so tief schlafen, dass sie nie wieder aufwachte. Doch der Lärm war zu laut, und die Herzen im Keller pumpten unnachgiebig, und ihre Muskeln zitterten wie die Saiten einer viel zu tief gestimmten Gitarre. Ihre Haare lungerten faul vor ihrem Gesicht herum, und das Licht der Gaslaterne flackerte zwischen den dünnen Strähnen.
Als sie das nächste Mal aufwachte, saß Vedian neben ihr. Er streichelte ihren Kopf, und sie fühlte, wie die Wärme seiner Hand durch ihren Körper zog. Es dauerte Minuten, bis einer von ihnen etwas sagte.
“Wir hätten fliehen sollen”, sagte er leise. Ein schwaches Beben zitterte immer und immer wieder durch den Boden und verschwand, bevor jemand wissen konnte, aus welcher Richtung es kam. “Als wir noch eine Chance hatten.”
“Ich weiß”, murmelte sie. “Ich weiß nicht, ob ich mich selber dafür hassen sollte.” Danach schwiegen sie wieder. Sie schloss die Augen und spürte, wie all die blauen Flecken an ihrem Körper um Hilfe heulten.
“Ich… Ich weiß nicht, was mit mir ist”, sagte sie schließlich. “Alles ist weg. Alles ist vorbei. Ich weiß nicht, ob ich wirklich wollte, dass sich Dinge ändern. Ich wollte doch nur wissen, was ich mit meinem Leben machen soll.”
Er wischte ihr eine dunkle Strähne aus dem Gesicht, die vor ihre Augen gefallen war. In ihrem Kopf glaubte sie, etwas zu fühlen, das unbedingt die Seiten ihres Schädels sprengen wollte. Das letzte Mal hatte sie so einen schweren Kopf gefühlt, als sie vor ein paar Jahren einen über den Durst getrunken hatte.
“Ich muss meine Eltern finden”, sagte sie. “Die sind schon einmal vor Krieg und Hass geflohen und wissen bestimmt, wie wir hier herauskommen.”
Mit diesen Worten setzte sie sich auf. Den Riss in ihrem Brillenglas vergaß sie, und die blauen Flecken schmerzten nicht so stark, wie sie erwartet hatte. Trotzdem zerrte eine unsichtbare Kraft an ihren Armen, Beinen und Augenlidern; der Schlaf stand an ihrer Schwelle, und er wartete nicht gerne. Vherendie setzte sich neben Vedian, Schulter an Schulter. Dann vergrub sie ihr Gesicht in ihren Händen.
“Mir wird erst jetzt klar, was ich getan habe”, sagte sie und schaffte es nicht, ihre zitternde Stimme zu kontrollieren. “Und was ich nicht getan habe. Ich konnte kein Leben retten, an der Universität. Aber ich konnte eins nehmen, eben gerade.” Sie schwieg und sah ihn dann an. “Eben gerade? Wie lange habe ich geschlafen?”
Er zuckte mit den Schultern und zog seine Taschenuhr hervor. Sie tickte nicht mehr.
“Wie ich gesagt habe”, sagte er, “Denk’ nicht drüber nach.”
“Aber-“
Vedian unterbrach sie.
“Jeder von uns hat Ideen, wie er in diesen Situationen reagieren wird”, sprach er. “Jeder von uns *weiß*, dass er nicht in einer gerade Linie vor dem fallenden Turm davonläuft, jeder von uns *weiß*, dass er die Hilflosen retten kann, jeder von uns *weiß*, dass er die eingeschlossenen Schulkinder aus dem Keller der Schule befreien wird. Und wenn es dann soweit ist, dann passiert alles ganz anders.”
Sie nickte und sah zu Boden.
“Weil eben nicht alles so passiert, wie es uns die Geschichten weismachen wollen”, fuhr Vedian fort. “Manch einer erlebt den Ruf zum Abenteuer nicht, trifft niemals seinen Mentor, steigt niemals in die Unterwelt herab und siegt nie über das, was am Ende der Reise in seinem Weg stehen mag.”
“Wir lieben diese Geschichte…”, murmelte sie.
“Und wir werden nicht müde, sie immer und immer wieder zu erzählen”, sagte er. Seine Stimme wurde leise und kalt. “Weil sie uns hoffen lässt, dass wir eines Tages selber auf die Reise gehen. Weil wir glauben, dass das Leben so funktioniert. Weil wir *wollen*, dass das Leben so funktioniert; und weil wir wollen, dass das Leben *funktioniert*. Die meisten Menschen hoffen ihr Leben lang, dass diese Geschichte beginnt, aber überleg’ einmal: Wenn die Reise das Wichtigste in deinem Leben ist, dann entwertet sie alles, was vor- und nach ihr passiert.”
Sie nickte, und er sah zu Boden.
“Ich hatte nicht viel Zeit, um darüber nachzudenken, Vherendie. Aber ich glaubte anscheinend, dass meine Reise zu Ende war. Ich hatte alles erreicht, was ich wollte – oder zumindest die schwersten Kämpfe hinter mir. Das Buch hätte mich beinahe aufgefressen. Aber es lag hinter mir, und ich dachte, die Welt bleibt immer so – ich dachte, ich hätte ein glückliches Ende erreicht. Bis du mir sagtest, dass du mich verlassen wirst.”
Vherendie winkelte ihre Beine an und zog ihre Stiefel über den Boden. Der Staub knirschte unter ihren Sohlen.
“Was ich damit sagen will – ich vermisse dieses Gefühl; ich vermisse es, meine Ziele erreicht zu haben”, brummte Vedian. “Ich vermisse die Freiheit, die es mir in meinen Gedanken ließ, und ich vermisse den Ausblick, den ich hatte – einen Ausblick, der nichts anderes als dich und die Forschung sah. Jetzt muss ich damit leben.”
Ohne ihn anzusehen nickte sie und griff nach seiner Hand. Ihr Arm schmerzte, und irgendwo an ihrem Bein juckte ein Verband, den der Arzt ihr angelegt hatte. Sie lehnte ihren Kopf an Vedians Schulter und sah der Kellerdecke zu, die sich über ihren Köpfen drehte. Dann streckte sie ihre andere Hand nach einer Scherbe aus, die sie auf dem Boden sah, und hielt das Stück in die Höhe. Im schwachen Licht des Kellers spiegelte sich nur die Hälfte ihres Gesichts; eine dunkle Schramme klebte an ihrer Wange. Auf ihrer Nase, auf ihrer Stirn sowie auf ihrem Hals lagen dünne Schichten Staub, die ihre Haut etwas heller und grauer machten.
“Du bist schmutzig. Und du siehst furchtbar aus”, sagte Vedian.
“Du auch”, konterte Vherendie. Dann lächelte sie.
Im hinteren Teil des Kellers stöhnte Feyhen genervt auf. Ein leises Murmeln drang durch die Luft; Yacinda sprach mit der weinenden Frau. Scilla war ihr Name. Draußen stampften Maschinen und Bomben, Stiefel, Metall auf Stein, Räder auf Stein. Doch im Keller klangen sie fern und dumpf, als ob sie nicht den Boden Tharamants, sondern den einer anderen Stadt auf einem anderen Kontinent zerreißen wollten. Vherendie schluckte, doch ihr Herz zog sich nicht mehr unter jedem Schuss zusammen. Es klopfte, voller Stärke.
13: Neunundzwanzig
Neunundzwanzig Soldaten.
Seit einigen Minuten saß Nesfalador unter einem Fenster zwischen den verkohlten Wänden eines ausgebrannten Hauses. Es war noch warm hier, als ob der Brand gerade erst verloschen war, und der Boden duldete hunderte kleine Trümmer auf seinem schwarzen Rücken, über den er den Nebel kriechen ließ. Irgendwo jenseits der Stadt musste jetzt die Sonne aufgehen, doch Nesfalador interessierte das nicht. Die Nacht war ein Erfolg.
Er zog ein Stück Brot aus seinem Rucksack und kaute auf ihm herum. Schüsse donnerten aus der Stadt und Nesfalador glaubte, jede einzelne Patronenhülse zu hören, die auf das Pflaster fiel. Schritte, Metall auf Stein, Räder auf Stein und dazwischen brechende Knochen, splitternde Rüstungen, berstender Stahl und spritzendes Blut – es ging so weiter wie letzte Nacht, und er liebte es. Weil es die Richtigen erwischte.
Neunzehn Soldaten, plus die Besatzung zweier Heuschrecken: Das war seine Bilanz für diese Nacht. Das war nicht zu viel, aber ein Anfang. Besonders stolz war er auf die beiden Heuschrecken, die er geöffnet hatte – mit einer Waffe, die er zuvor einem feindlichen Soldaten abgenommen hatte. Er war zwischen Ihnen aufgetaucht, hatte seinen Dolch in den Spalt zwischen Hals und Helm gestoßen und so drei Soldaten ausgeschaltet, bevor sie überhaupt begriffen, dass sie ihre Waffen auf ihn hätten richten müssen, um ihn zu überleben. Die Nacht hatte ihn versteckt, aber nichts konnte verbergen, dass er noch immer ein wenig zitterte. Sein Herz klopfte, und sein Fuß wippte unruhig hin- und her.
Neunundzwanzig Soldaten.
In diesem Moment hörte er eine weitere Heuschrecke, die sich der Kreuzung vor der Hausruine näherte. Nesfalador griff die Röhre, die er neben sich an die Wand gelehnt hatte, und wartete. Bilder strömten durch seinen Kopf: Vuernica, sein Heimatdorf. Er sah, wie die Donnerwale und die Heuschrecken in der Nacht auftauchten, und wie sie das ganze Dorf noch vor Sonnenaufgang auslöschten. Wie einige der Soldaten die Röhren schulterten, von denen er eine erbeutet hatte; und wie das Feuer, das aus ihnen schoss, die Welt zum Beben brachte, bevor es brennende Löcher in die Fischerhütten riss.
Er hielt die Röhre mit beiden Händen fest umschlossen. Am vorderen Ende saßen Griffe, mit denen die Soldaten zielten, während die Waffen auf ihren Schultern ruhten. Er hatte diese Bilder nicht vergessen, und er hatte sie letzte Nacht abgerufen, um den Mördern Gerechtigkeit zu bringen.
Vorsichtig blickte er aus dem Fenster heraus und beobachtete, wie die Heuschrecke an ihm vorbeiging. Hinter ihr fuhr ein Radpanzer, eine schlanke Kapsel auf acht breiten Rädern. Er hatte dieses Gefährt noch nicht gesehen, und sofort fiel ihm die Waffe auf, die auf dem Dach montiert war und im Takt des Panzers wippte. Doch noch interessanter fand Nesfalador die Farbe der beiden Fahrzeuge, denn die Heuschrecken, die er letzte Nacht zerstört hatte, trugen an ihrer Seite einen blauen Kreis, aus dem eine Träne tropfte; auf diesen Fahrzeugen war das Zeichen jedoch schwarz. Nesfalador fragte sich, ob das eine andere Einheit signalisierte, doch bisher hatte er nur Heuschrecken mit blauen Emblemen gesehen.
Neunundzwanzig Soldaten.
Schon seit Stunden fiel keine Bombe mehr. Das Feuer hatte alles verbrannt, was in seine Klauen fiel, und mittlerweile hallten nur noch selten Schüsse durch eine Totenstadt, in der es keine natürlichen Laute mehr zu geben schien. Die Vögel mussten Tharamant schon verlassen haben, als der Schnee einsetzte und ihren inneren Kalendar durcheinander brachte. Nur die Ratten waren geblieben, und eine würde er gleich zum Frühstück essen, sollte sie ihm über den Weg laufen.
Doch vorher musste er planen. Er wusste noch nicht, wie er auf dem schnellsten Wege zum Rathausplatz kommen sollte. Als Heuschrecke und Panzer die Kreuzung verlassen hatten, legte Nesfalador die Röhre bei Seite und nahm eine Tasche von seinem Gürtel. Er öffnete und schüttelte sie, bis fünf kleine Murmeln aus ihr herausfielen. Sie schlugen auf dem Boden auf und rollten durch den Nebel in die Ecken des Raumes. Doch dann drehten sie sich aus eigener Kraft um und strebten alle in eine andere Ecke des Raumes hinein. Dort kreisten sie um einen Punkt herum und bildeten die Spitzen eines symmetrischen Fünfecks.
Südwesten.
In diesem Moment wusste er, dass sein Plan gelingen würde. Er drehte ein paar Kräuter in einem Blatt Papier zu einer Rolle zusammen und zündete diese mit einem Streichholz an. Nach dem ersten Zug blies er eine Rauchwolke in die Luft, und die tote Ruhe über Stadt wich dem warmen Feuer eines Kamins. Er konnte hören, wie es prasselte, knackte, zischte und rauschte, obwohl alles aus einer fernen Zukunft zu ihm drang. Dann erschienen ein blauer und ein schwarzer Mond am roten Himmel, und beide krachten ineinander, um neben der aufgehenden Sonne zu zersplittern.
Neun. Undzwanzig. Soldaten.
Er war ein gottverdammter Held.
14: Königin
Ancardia war der Schwarm. In ihren Träumen ritt sie an seiner Front in den Kampf, voran wie die Galionsfigur eines alten Schiffes. Ihre starre Hand streckte ein Schwert in die Lüfte, und der Schwarm folgte ihr wie die Welle eines Ozeans, den der Sturm vor sich herpeitscht. Irgendwann aber warf sich ihr ein feuchtwarmer Muff entgegen, und als es wärmer wurde, öffnete sie die Augen.
Ihr Sichtfeld schaukelte verschwommen vor ihr, doch sie konnte sehen, was passierte. Überall waren Beinwürmer, hinter ihr waren Beinwürmer, über ihr kletterten sie an der Tunneldecke entlang. Ihre Zähne klammerten sich in ihren Rücken und ihre Brust, ihr Speichel tropfte wie ein schwerer Regen über ihre Kleider. Ancardia spürte den Boden nicht – ihre Beine schwebten frei in der Luft. Sie schrie und zappelte, schlug mit Armen und Beinen um sich und watschte eine ihrer Fäuste in die glitschige Haut eines Wurms. Dann verlor sie ihre Kraft und schnappte nach Luft. Sie konnte nur schwer atmen.
Je schwerer und feuchter die Luft in ihre Lunge drang, desto mehr und mehr sah der Tunnel wie ein eigenes Organ aus. An den Wänden erkannte sie die dicken Wurzeln, die wie fettige Adern pulsierten und den Tunnel in ein dunkles, rotes Licht tauchten. Einmal schrammte sie an der weichen, glitschigen Wand entlang und riss unzählige Pilze hinunter, dann fielen ihre Augen zu, bis sie mit ihrem Knie an den Felsen schlug. Sie schrie spürte, wie warme Tränen über ihr Gesicht liefen und den Schmutz von ihrer Haut wuschen.
Schließlich weitete sich der Tunnel. Ein monströser Gestank lauerte in der Luft – Ancardia roch faule Eier, Exkremente, Schweiß und Schimmel. Die Luft kroch wie ein fauler, zäher Honig in ihre Lunge hinunter, und bald kam es ihr so vor, als ob sie ihren Sauerstoff geradezu hinunterwürgen musste. Der Gestank machte es nicht einfacher.
Als Ancardia sich umsah, sah sie, dass der Schwarm sich ausbreitete. Die Würmer um sie herum liefen links und rechts auseinander, blieben stehen und bellten. Der Lärm nahm kein Ende, und die beiden Würmer, die sich in ihren Körper verbissen hatten, trugen sie in die Mitte eines Kreises. Die Zähne lösten sich, und Ancardia hatte das Gefühl, dass sich eine Säge durch ihren Körper zog. Sie schrie, als sie zu Boden fiel und sprang sofort wieder auf ihre müden Beine, als sie den Boden berührte. Ihr Fuß schmerzte noch immer, vielleicht noch schlimmer als zuvor. Ihr war schwindelig, und ihre Sicht verschwamm vor ihren Augen. Der Boden war voller Schleim und so rutschig, dass sie fast wieder von ihren Füßen fiel. Sie taumelte ein paar Schritte, dann sah sie klar: An den Felswänden hingen weiße Kokons, in denen dunkle Schatten zappelten. Türkise Kristalle leuchteten auch hier in den Wänden, doch sie hatten Sprünge und Risse. Diese Halle war vielleicht einmal wie die anderen gewesen – doch etwas hatte sie verzerrt: Felsplatten ragten aus den Wänden und dem Boden hervor, und vor den vielen Tunneln, die in diese Halle führten, lagen Felsen, die früher einmal Treppen gewesen sein mussten. Weiter hinten in der Halle konnte Ancardia das Ufer eines unterirdischen Sees entdecken – Wasser tropfte aus der Decke über ihm von mächtigen Stalaktiten herab, und ein paar Würmer sprangen in seine Fluten. Überall zischten, bellten und würgten sie: Einige fraßen von riesigen Pilzen, die in einer dunklen Ecke wuchsen; andere fraßen sich gegenseitig. Um Ancardia herum standen die Würmer in einem weiten Kreis, keiften und sabberten und hoben ihre Mäuler so in die Luft, wie Hühner ihre Köpfe in die Welt streckten.
Plötzlich erschrak Ancardia. Vor ihr kreischte eine fette Bestie, aufgequollen, als ob jemand einen riesigen Beinwurm mit einer Luftpumpe aufgeblasen hätte. Sie wuchs bestimmt fünf Mal so hoch wie Ancardia, und ihr Gestank raubte ihr den Atem. Am Ende des Biests hing ein langer, fleischiger Schlauch, der sich wie ein Rüssel über ein kopfgroßes Ei stülpte; an der Stelle, an der er in den Körper der Bestie überging, blähte er sich auf wie ein loser, ledriger Hautsack. Ancardia glaubte, in ihm weitere Eier zu sehen, die unter der blassen Haut blubberten, als wären sie hundert kleine Herzen, die das Blut durch den Körper der Bestie jagten. Die Haut, die sich über sie spannte, wirkte, als ob sie jeden Moment reißen wollte, und bei jeder Bewegung schwabbelte das Fett, das den Körper des Biests verzerrte. Dürr und schlaff hingen ihre Beine auf dem Boden, als ob die Kreatur sie niemals benutzt hätte. Stattdessen aber wuchs auf beiden Seiten jeweils ein dünner Arm aus der Schulter hervor, der in einer langen, dünnen Knochensichel endete.
Drei andere Beinwürmer kamen heran und warfen Dahales auf den Boden. Er schrie und zappelte und fiel vornüber, als er mit den Füßen keinen Halt auf dem glitschigen Boden fand. Sie eilte sofort zu ihm. Auf seinem Rücken sah sie, wie sich sein eigenes Blut mit dem Speichel der Beinwürmer mischte, und in ihren Ohren hörte sie, wie die Tiere johlten, heulten und bellten.
“Dahales. Dahales! Steh’ auf!”, rief sie und rüttelte an ihm. Er hob sich auf seine Füße, doch fiel sofort wieder hin. Ancardia umklammerte seinen Arm und sah zur Bestie hoch. Ihr Maul war nicht viel größer als das der anderen Beinwürmer, doch die Zähne waren länger und dünner, wie kleine Dolche, die aus dem Zahnfleisch wuchsen. Sie reckte ihren langen, dünnen Hals empor und hob die Knochensicheln an ihren dünnen Armen. Doch bevor die erste Sichel auf sie herabfiel, warf Ancardia Dahales zur Seite und fiel nach hinten, sodass die Bestie ihre Klaue in den Boden rammte. Der Knochen glänzte bleich, als ob ihn eine dünne Schicht Schleim bedeckte, und erst jetzt erkannte Ancardia, dass die Bestie Augen hatte – sie saßen direkt hinter dem Maul und waren komplett schwarz, klein und ohne Leben.
Ancardia keuchte und versuchte, aufzustehen. Die Sichelklaue, die vor ihr im Boden steckte, war ungefähr so groß wie sie selber. Mit beiden Händen suchte sie nach Halt auf den glitschigen Felsen, bevor sie sich mühsam wieder auf ihre Beine hob. Die Beinwürmer kreischten und scharrten unruhig mit den Füßen, doch keiner wagte es, am falschen Ende der Sicheln zu stehen.
Neben ihr stand Dahales auf und rutschte einen Schritt über den Boden. Er hielt sein Gleichgewicht nur, indem er mit den Armen wedelte. Die nächste Sichel raste herab und verfehlte ihn nur knapp. Das Monster schrie auf, und es war, als ob purer Donner auf die Hallendecke fiel. Unter ihrem Maul hingen dicke, schwarze Geschwüre, die bei jeder Bewegung wie aufgeplatzte Tentakel zitterten. Dann hob die Bestie beide Sicheln, wie ein Vogel, der seine Flügel in den Himmel streckt.
Plötzlich rutschte Dahales aus. Er griff nach Ancardias Arm und riss sie zu Boden, in den Schleim hinein. Hastig strampelte er mit den Beinen und packte sie mit seiner linken Hand; dann hielt er seine rechte in die Luft, spreizte alle Finger und schrie. Die Sichel, die auf ihn herabraste, traf nur wenige Zentimeter vor seiner Hand auf eine Wand aus Licht und prallte von ihr ab – es klang fast so, als ob eine dünne Nadel auf eine Scheibe Glas fiel. Die Höhle hallte dem Geräusch hinterher, bis es unter den wütenden Schreien der Beinwürmer unterging.
Ancardia sah auf. Die Bestie warf den Kopf in den Nacken und krähte. Dann folgte ein schriller, wütender Schrei, bevor beide Klauen erneut auf Dahales und Ancardia hinunterfielen. Sie klammerte sich an ihn, und seine Hand zitterte jedes Mal, wenn eine der Sicheln auf den Schirm traf. Im Wechseltakt rasten sie auf die Wand aus Licht herab, und am Rand ihrer Sicht erkannte Ancardia, wie die Bestie unruhig mit den Beinen scharrte, die viel zu dünn und klein waren, um sie vom Boden zu hieven. Das Licht über ihnen begann zu flackern, während die Beinwürmer um sie herum aufgeregt bellten.
Ancardia krallte ihre Finger in Dahales. Sie hatte zu viel Angst, sich zu bewegen.
“Lange halte ich das nicht mehr durch!”, stöhnte er.
“Kannst du dieses Monster nicht in Brand setzen?”, brüllte sie und verschluckte ihre eigene Stimme, als die Höhlenluft in ihren Mund drang.
“Würden wir hier noch liegen, wenn ich es könnte?!”
Ein Schlag nach dem anderen jagte auf den Schild nieder, doch plötzlich verharrte eine der Sicheln über der Blase. Für eine Sekunde blieb die Zeit stehen: Ancardia sah, wie die Sichel aus dem Arm der Kreatur herauswuchs. Ein dürrer Strang Muskeln setzte am Gelenk an, das die Sichel vom Rest des Armes trennte – fast wie das Gelenk eines Käferbeins.
“Siehst du das, dort am Arm?”, rief Ancardia.
Ein weiteres Mal sauste eine Sichel hinunter, und Dahales hielt ihr den Schirm entgegen. Es kribbelte bis in ihre Arme hinein, wenn die Schläge trafen – sie konnte spüren, dass ihn die Kräfte verließen.
“Warte… Ich… Ich habe eine Idee!”, knurrte er. “Es… Es ist unsere einzige Chance, hier heraus zu kommen… Ich kann uns nicht ewig schützen!”
“Dann mach’ es doch! Jetzt!”, brüllte sie ihn an.
“Gib mir das Messer… Aus meinem Rucksack!”
Während er sich aufrichtete, öffnete sie den Rucksack, der nur noch an einem Gurt an seiner Schulter hing. Schon wieder krachte eine Sichel auf den Schirm: Unter ihrer Wucht flackerte das Licht, und Dahales fiel wieder auf den Boden. Dann verschwand der Lichtschirm. Ancardia drückte ihm das Messer in die Hand. Er sprang auf, völlig ohne Schutz, und hob seine linke Hand mit dem Küchenmesser, das er aus ihrer Wohnung mitgenommen hatte. Es war gerade gestern gewesen, dass er dies getan hatte; doch es kam ihr vor, als ob es in einer ganz anderen Zeit geschehen war. Der Keller, der Gaskessel, die Kanalisation, der Knochendom, die Halle der Heldinnen, die Halle mit den Säulen, der unterirdische Friedhof, das Nest – all das stammte aus einer anderen, archaischen Zeit, und in diesem Moment gehörte auch das Messer dazu.
Dahales biss die Zähne zusammen und sprang unter dem nächsten Schlag zur Seite, nur knapp bevor die Bestie ihn in der Mitte teilen konnte. Sie schrie und warf den Kopf erneut nach hinten. Das war der Moment.
Die Sichel steckte im Boden. Sie saß nicht fest, aber anscheinend war auch die Bestie bald am Ende ihrer Kräfte. Er warf das Messer in seine rechte Hand, hob es und holte aus. Als es auf das Gelenk zwischen Arm und Sichel traf, spritzte ihm dunkelrotes Blut entgegen. Zwei Schreie fuhren durch die Höhle, und dann fiel Dahales vornüber. Ancardia sah mit weiten Augen nach oben. Der blutende Arm der Bestie schnellte in die Höhe, ohne die Sichel, die neben Dahales im Schleim lag.
Ihr Herz klopfte. Als Dahales wieder auf seine Füße sprang und das runde, knorrige Ende der Sichel ergriff, spürte Ancardia, dass sie lachen musste: Sie hatten eine Chance! Dahales riss ein paar Muskelfetzen aus dem Knochenende und hielt die Sichel wie ein Schwert in die Höhe, bevor er zu Ancardia sah.
“Dahales!”, schrie sie plötzlich. Mit weiten Augen sah sie, wie sich die andere Sichel in seine Seite schob. Um ihn herum flackerten Lichter, dann sank Dahales auf die Knie, während die Spitze der Sichel aus seiner Schulter herauswuchs. Er sackte zusammen und ließ das Sichelschwert fallen.
In ihrer trockenen Kehle fühlte Ancardia, wie ein weiterer Schrei hinaufsteigen wollte, aber auf halbem Weg den Halt verlor. Dahales würgte einen Schwall Blut über seine Lippen, der von seinem Bart herab in den Schleim am Boden tropfte. Dann schrie die Bestie, und in der Höhle jubelten die Beinwürmer.
“Nein, nein, nein”, stammelte Ancardia. Sie konnte sehen, wie der letzte Atem seine durchbohrten Lungen verließ. Dann wurde alles still. Ihre Sicht verschwamm, bis sie sich die Tränen aus ihren Augen wischte.
“Dahales!”, schrie Ancardia und sah zur Klaue hinauf. Die Bestie hob den leblosen Körper in die Höhe, der etwas tiefer auf der Sichel hinabrutschte; die Klaue war voller Blut, das von der Spitze tropfte. Wie im Rausch tosten die Beinwürmer. Sie scharrten mit den Füßen und warfen die Mäuler in die Höhe, während die Bestie einen langen Schrei in die Höhle fauchte. Sie rauschten, und ihre Körper verschmolzen zu den Wellen eines hungrigen Ozeans. Es gab keine einzelnen Kreaturen mehr – es gab nur noch den Schwarm oder Ancardia.
Mit festen Schritten stapfte sie durch den Schleim. Sie rutschte nicht mehr. Sie fühlte keine Schmerzen mehr, nur noch Wut. Der Schwarm gröhlte wie ein Orkan, und sie ging in völliger Stille mitten durch das Auge des Sturms. Dann zog sie das Sichelschwert, das Dahales abgetrennt hatte, aus dem Schleim. Es war fast so lang wie sie selber und lag schrecklich unhandlich in ihrem Griff – aber sehr viel leichter, als sie erwartet hatte.
Das Ende war glitschig, aber sie schloss ihre Hand fest um den Griff. Zornig schliff sie die Knochenklinge über den Boden und hielt sie dann in die Luft, rannte auf den aufgeblähten Eiersack der Bestie zu und holte mit all ihrer Kraft aus. Von oben nach unten hieb sie einen langen Schnitt in die dünne Haut. Die Bestie kreischte und zappelte, und die Beinwürmer verstummten im Echo, das durch die Hölle hallte. Ancardia schlug erneut zu und verfehlte den ersten Schnitt um eine Handbreite. Sie spürte den Schweiß an ihren Armen hinunterlaufen, wie er von ihrer Stirn tropfte, und wie er unter ihrer Kleidung an ihrer Haut entlang floss; sie spürte den Brand aller offenen und inneren Wunden, die ihr Körper mit sich trug. Dann schrie sie und holte ein letztes Mal aus. Sie wusste: Das hier war das Ende ihrer Reise.
Bei diesem Schlag fiel ihr die Sichel aus den Händen. Die Haut der Bestie riss auf. Eine grüne Flut sprang Ancardia entgegen und warf sie von den Beinen. Als sie auf ihrer Seite aufschlug und nach Luft schnappte, sah sie weiße, kopfgroße Eier aus der Bestie herausquellen und hob die Hände vor ihren Kopf, bevor die Flut sie verschlang.
15: Aufbruch
“Ich glaube, es hat aufgehört”, flüsterte Feyhen, doch die Menschen im Keller blieben still. Er hockte über dem nackten Bein eines Verletzten und tränkte einen Kleiderfetzen mit dem Alkohol aus einer gläsernen Flasche, die im Licht der Gaslaterne glühte, als ob ein elektrischer Draht durch sie hindurchlief.
Vherendie hielt ihre Hand an ihren Kopf. Nein, es hatte nicht aufgehört. Dumpfe Schüsse donnerten durch ihren Kopf wie Eisenbahnen, die ungebremst in den Bahnhof jagten, und unter ihr erschlaffte immer wieder der Körper, auf den sie so lange eingeschlagen hatte, bis er sich nicht mehr regte. Sie zitterte.
“Sie könnten wiederkommen”, sagte Vedian neben ihr. Seine Beine lagen lang und schlaff auf dem Boden.
“Sie *werden* wiederkommen”, brummte jemand. Vherendie spürte, wie sich ihre Augen schließen wollten, um zu schlafen. “Weckt mich, wenn sie den Keller stürmen.”
Sie reichte in ihren Rucksack hinein und holte den Stein heraus, den sie aus einer der Rüstungen gezogen hatte. Immer noch klebte trockenes Blut an seiner Seite, und im Kellerlicht glaubte sie, dass unter der glatten, glänzenden Oberfläche etwas schimmerte, das sich bewegte – mal wie ein schlagendes Herz, mal wie ein Nebel.
“Von Trinitas war bei mir”, flüsterte ihr Vedian zu. Sein Atem schlug warm an ihren Nacken. “Und er brachte einen ähnlichen Stein mit, nur größer.”
Sie sah ihn an und runzelte die Stirn.
“Er kam vom Götterkeil”, flüsterte Vedian. “Und der Götterkeil ist nicht von dieser Welt, hat er mir erzählt… und es mir *gezeigt*.”
Vherendie weitete die Augen und starrte den Stein an. *Nicht von dieser Welt*. Der Nebel unter der Oberfläche wirbelte umher wie ein Schwarm Fische in einem viel zu kleinen Fischglas; dann stand er still, und sie erkannte, dass er ihr die Krater und Narben des Mondes zeigen wollte.
“Wie alt?”, fragte sie. “Wie alt muss das sein?”
Vedian gab ihr keine Antwort. Ihr Herz hämmerte, als sie über die Implikationen nachdachte – wenn selbst Vedian nicht wusste, wie alt der Stein sein mochte, dann musste er älter sein als alles, was sie kannten. Der Götterkeil war damit vielleicht fünftausend, vielleicht siebentausend, vielleicht sogar zehntausend Jahre alt. Wie aufregend!
“Du hattest recht”, sagte sie und lächelte ihn an. “Vielleicht liegt es daran, dass ich in den letzten Tagen zu viele unglaubliche Dinge mit eigenen Augen sehen musste, aber wenn nun auch Von Trinitas auf deiner Seite steht, dann scheint etwas da dran zu sein.”
“Danke”, sagte er. Seine Augen strahlten. “Bedeutet das, du arbeitest wieder mit mir zusammen? Es gibt noch so viel zu lernen und zu erfahren.”
Vherendie schwieg und suchte nach einer Antwort in seinen Augen, sah dann aber zur Seite. Das Ende Tharamants bedeutete das Ende von Kultur und Wissenschaft; und selbst wenn die Invasion in Tharamant enden sollte, dann konnte sie sich nur schwer vorstellen, jemals wieder in diese Welt zurückzukehren, so spannend es auch war, in den vergilbten Seiten alter Bücher zu wühlen. Sie würde zwar immer wieder vermissen, ihre Tage und Nächte zwischen alten Artefakten und Papieren verbringen zu dürfen, aber sie sah in dieser neuen Welt keine Zukunft dafür.
Es hatte Zeiten gegeben, in denen das anders war. Zeiten, in denen sie die ganze Welt der Wissenschaft erobern wollte, wie eine machthungrige Königin. Gierig sog sie damals alles Wissen auf, das sie fand, verbrachte ganze Nächte in den Büchern von Menschen, die seit dreihundert und mehr Jahren tot waren, vergessen von der Öffentlichkeit, vergessen von der Welt, vergessen in den Regalen einer selten besuchten Sektion in der Bibliothek. Ihr war klar: Jeder würde sich an Vherendie Sela-Bordakane erinnern, die große Historikerin des 14. Jahrhunderts, ein Flüchtlings- und Arbeiterkind, das mit ihrem Lebensweg die Lügen von Stand und Abstammung entlarvte. Jeder würde ihr großes Standardwerk zur Geschichte des Kontinents Alâon kennen, denn sie würde Geschichte zum Kern der zivilisierten Kultur erheben; sie würde die Kultur des Vergessens in eine des Erinnerns verwandeln, und sie glaubte an diesen Traum, bis sie merkte, dass sie das nicht mehr wirklich wollte.
Schon vor der Ankunft der Invasoren hatte der Traum im Sterben gelegen, aber erst der Angriff auf Tharamant setzte ihn zur letzten Ruhe. Vherendie sah, dass sie nur ein Schicksal unter vielen war; Millionen weitere warteten da draußen, und es war unmöglich, alle zu würdigen, ohne andere zu entwerten. Vherendie war entbehrlich. Sie würde, wenn überhaupt, nur als blasse Zahl in den zukünftigen Geschichtsbüchern der Welt auftauchen, und es war egal, ob in der nächsten Minute die klapprige Kellertür aufgerissen wurde. Es war egal, ob ein Trupp gesichtsloser Soldaten den Keller säuberte, bis die Gewehre vor Anstrengung keuchten. Es war egal, wer sie war. Es war egal, was sie tat.
Oder nicht?
Sie steckte den Stein in ihren Rucksack und richtete sich auf. Mit beiden Händen stützte sie sich auf den Boden und stand auf – ihre Beine zitterten immer noch und das Blut in ihren Adern rauschte, als ob es dachte, sie wäre immer noch im vollen Lauf.
“Ich hab’s in der Hand”, murmelte sie. Dann sah sie Vedian an, der am Boden saß. “Ich hab’s in der Hand. Kommst du mit? Wir müssen hier raus.”
“Ich bleibe hier”, entgegnete er und rieb sich die Wange. “Wir haben verloren, Vherendie.”
“Scheiß’ drauf”, antwortete sie. “Solange wir am Leben sind, solange haben wir noch nicht verloren. Steh’ auf.”
Vedian setzte sich auf und stöhnte, blieb aber auf dem Boden sitzen. Er streckte seine Arme und Finger, und es knackte kurz und trocken in ihnen.
“Nein. Wir haben verloren”, brummte er. “Bin mir ziemlich sicher.”
Sie kniete sich hin und versuchte, ihm in die Augen zu sehen. Doch er wandte seinen Blick ab.
“Hör’ zu”, sagte sie. “Spiel’ hier nicht den Fatalisten. Da draußen – nein, hier drin sogar – sind Menschen, die viel mehr verloren haben als du. Zum Beispiel ihre Kinder, Eltern, Freunde oder Partner. Oder alles zusammen.” Sie blickte kurz zu Feyhen. Er sah zurück, und sie fand es schwer, seinen Blick zu deuten. “Das einzige, was du verloren hast, ist eine akademische Stelle, die du dir mit sehr dünner Beweisführung ergaunert hast.”
“Meine Beweise waren nicht dünn, sie waren nur-“
“Ich will es nicht hören, Vedian, ja?”, sagte sie und hielt ihre Hände vor ihren Körper, als ob sie sich vor seinen Worten schützen wollte. “Ich will es nicht hören. Es geht nicht um dich. Es geht nicht *mehr* um dich, und auch nicht um mich. Leb’ damit.”
Als er den Kopf neigte und sie ansah, konnte sie viel tiefer in seine klaren Augen blicken, als sie befürchtet hatte. Ein leerer Abgrund weit hinter den Linsen drohte Licht, Hoffnung und Lebenswillen gleichermaßen zu verschlucken. Vherendie verlagerte ihr Gewicht von einem Fuß auf den anderen. Eine Scherbe knackte unter ihrer Sohle, Staub knirschte unter der anderen.
“Pass’ auf”, sagte sie. “Ich reiche dir jetzt meine Hand, aber es bleibt dir überlassen, ob du sie nimmst und mit mir kommst. Hier unten ändert sich nichts.”
“Was soll sich denn ändern?”, fragte er.
“Ich weiß es nicht”, antwortete sie. “Aber ich halte es hier unten nicht mehr aus. Ich komme immer wieder zum Schluss, dass mein zukünftiges Leben so bedeutungslos sein wird wie mein bisheriges. Aber wenn ich nicht in die Welt hinausgehe, um etwas zu ändern, dann finde ich auch nicht heraus, ob es tatsächlich so ist.”
“Du bist nicht bedeutungslos”, sagte er. “Du bedeutest *mir* etwas.”
“Ich weiß”, sagte sie, stand auf und lächelte müde. In seinen Augen sah sie, dass sich der Abgrund lichtete – oder es war nur das Licht der Gaslampe, das sich in ihnen spiegelte. “Aber das ist jetzt nicht wichtig. Ein Mensch, der dir was bedeutet, reicht dir die Hand. Was tust du?”
Er starrte die Hand an, die sie ihm entgegenstreckte.
“Ja, du hast Recht”, antwortete er und blickte auf den Boden. Nach einer kurzen Sekunde sah er wieder zu ihr hoch und sagte: “Wenn ich in einem Raum mit Yacinda von den Wellen sitze und trotzdem noch die größere Diva bin, dann habe ich ein Problem.”
Dann griff er ihre Hand und stand auf. Sie musste nur kurz ziehen, und als er stand, umarmte sie ihn.
“Es tut mir leid, Vherendie”, murmelte er. “Ich bin so verdammt müde…”
“Das sind wir alle, Vedian”, flüsterte sie. Es überraschte sie, wie sanft ihre Stimme klingen konnte. “Wie gesagt, wir haben alle etwas verloren. Manche mehr, manche weniger. Ich will mir gar nicht anmaßen, über die Schwere und den Sinn zu urteilen.”
“Nein, sollten wir nicht”, murmelte Vedian.
“Blödsinn”, brummte Feyhen aus der anderen Ecke des Raumes und schüttelte den Kopf, doch Vherendie ignorierte ihn.
“Also, lass’ uns aufbrechen. Ich muss meine Eltern finden. Und dann müssen wir die Stadt verlassen”, sagte sie. Er sah sie an und nickte.
Feyhen trat auf die beiden zu. In seinen Händen trug er ein Tuch und die Flasche. Er hatte seine Ärmel nach oben gezogen und wischte Blut von seinen Armen.
“Was habt ihr beide vor?”, fragte er.
“Bahnhof”, murmelte Vherendie und schwang den Rucksack über ihre Schulter.
“Ihr wollt da raus? Tut es. Wunderbar”, knurrte Feyhen. “Lasst’ mich alleine. Wenn ihr euch selber töten wollt.”
Vherendie ging ein paar Schritte zu den Verletzten hinüber, bei denen Feyhen stand. Zwei Frauen schliefen und hatten keine äußeren Wunden; zumindest keine, die sie im schwachen Licht hier unten sehen konnte, doch dann sah sie genauer hin: Eine Frau trug einen langen Schnitt in ihrem Gesicht, der ihre Nase teilte. Sie schien zu fiebern; unruhig warf sie sich hin und her. Daneben lag ein Mann, der Kleidung nach ein Bankier: Sein linker Arm war ab der Mitte der Speiche nur noch ein einziger Brei aus Fleisch, Blut und Knochensplittern.
“Seid froh, dass es euch nicht erwischt hat”, brummte Feyhen, als er merkte, wie Vherendie den matschigen Arm anstarrte.
“Wie kann er denn das überleben?”, fragte sie.
“Gar nicht. Der Arm muss ab. Doch ich habe keine Säge. Ich habe gar nichts hier unten”, antwortete er und wandte sich von den Verletzten ab. “Wenigstens ist es hier unten sicher.”
Sie schloss die Augen und schüttelte den Kopf.
“Nicht für immer.”
“Aber jetzt; so lange, bis die Straßen wieder sicher sind”, entgegnete Feyhen. “Hört zu: Ich weiß, dass ihr das Gefühl habt, irgendetwas tun zu müssen, um wieder das Gefühl von Kontrolle zu erhalten. Ich habe euch zugehört. Ich verstehe das. Aber da draußen laufen Monster herum, egal, was das für Menschen sind, die unter den Helmen stecken. Wir haben nur geringe Chance, das zu überleben, und zur Zeit glaube ich, dass unsere Chancen hier unten am Besten stehen.”
“Früher oder später müssen wir aber hier raus”, sprach Vherendie. “Wovon willst du dich ernähren, was willst du trinken?” Sie blickte in die Ecke des Kellers, in der der Gaskessel gestanden hatte; dann sah sie in die andere Ecke, in der die Sängerin saß, die mit leeren Augen in die Ferne starrte.
“Wir könnten Werkzeuge für dich suchen, und Medikamente”, bot Vedian an, obwohl er nicht wusste, ob er das wirklich versprechen wollte.
“Oh, wie wunderbar”, sagte Feyhen und verdrehte die Augen. “Merk’ dir das: Ich brauche Atrepazin 50, Binocetaphamin 61-3, Melosiphalote und Etoma-Transrapedin Stark. Dazu eine Knochensäge, solltet ihr sowieso schon in einem Krankenhaus sein. Wo liegt das noch mal? *Ach ja*. Am anderen Ende der Stadt.”
“Und wenn du mitkommst?”, fragte Vherendie. “Ich meine… Warum tust du das hier?”
“Weil es richtig ist”, zischte Feyhen. “Sonst sterben diese beiden Menschen. Vielleicht, ich kann es nicht sagen.” Feyhen deutete auf den Mann und die fiebernde Frau. “Die anderen beiden werden durchkommen. Vielleicht, kann ich auch nicht sagen.”
Feyhen lachte gequält auf und schüttelte den Kopf.
“Was mache ich mir vor. Ihr seht doch, wie es hier aussieht”, sagte er. “In dieser Stadt lagen viele Gasleitungen; darum werdet ihr nur Asche finden.”
“Wir wollen nur helfen”, sagte Vedian.
“Und ich will nur realistisch sein”, knurrte Feyhen. “Ihr sterbt da draußen.”
Vherendie tickte Vedian an seiner Schulter an. Er drehte sich zu ihr hin. Seine Augen waren wieder weit und leuchteten im Halbdunkel, und wenn sie genau hinein sah, konnte sie sogar einen Hauch von Abenteuerlust in ihnen entdecken. Er bereitete sich innerlich auf den Aufbruch vor.
“Mir ist gerade etwas in den Sinn gekommen”, sprach sie. “Wenn man einen Kampf nicht gewinnen kann, dann muss man irgendwie für Chancengleichheit sorgen. Also: Entweder gehen wir den Truppen aus dem Weg, oder… Wir stehlen ihre Waffen. Wenn wir so vorgehen und uns durch die Stadt schlagen, könnten wir es schaffen. Gadagor hat es mit seinen damaligen Bundesgenossen doch auch geschafft, gegen die zahlenmäßig überlegenen Ritter aus Senev zu bestehen; im Großreichkrieg zwischen 377 und 389. Sie versteckten sich in den Wäldern und in den Greveler Bergen, führten sie in die Irre und zermürbten sie mit kleinen, schnellen Angriffen. Die Stadt bietet ideale Möglichkeiten für ein ähnliches Vorgehen, und wir kennen Tharamant besser als die anderen. Wir könnten die Angreifer kampfunfähig machen und ihre Waffen und Rüstungen nehmen.”
“Die sind uns bestimmt zu eng“, murmelte Vedian und schüttelte den Kopf, ohne den Blick von ihren Augen zu lassen. Er musste lächeln. “Sie sind alle sehr hoch und schlank gewachsen, und wir beide haben es uns doch sehr gut gehen lassen, um es verblümt zu sagen. Außerdem bezweifle ich, dass wir es schaffen, jemanden mit bloßen Händen niederzuringen, der Rüstung und Gewehr trägt… der letzte Versuch hätte uns beinahe umgebracht.”
Plötzlich sprang Feyhen auf. Wut brannte in seinen kalten, klaren Augen.
“Es reicht mir!”, zischte er. “Hier sterben zwei Menschen. Und ihr beide denkt darüber nach, euch einfach aus dem Staub zu machen? Ihr widert mich an. Wo ist euer Mitleid? Wo ist eure Moral und nicht zuletzt, wo ist euer verdammter Lebenswillen? Ihr überlebt da draußen nicht!”
Vherendie sah zu Boden, dann wieder auf. Feyhen hockte sich wieder über die Wunde und tupfte an ihren Rändern herum.
“Ich bleibe hier, bis das Unabwendbare eingetreten ist oder ich eine Lösung gefunden habe. Verschwindet nur, ihr egoistischen Großstadtkinder”, knurrte er.
Vherendie und Vedian sahen kurz zu Feyhen, dann nickten sie sich gegenseitig zu und gingen zur Treppe, die aus dem Keller nach oben führte. Staub, Sand, Asche und Scherben knirschten unter ihren Stiefeln.
“Mach’s gut, Feyhen”, sagte Vherendie. “Danke für deine Hilfe.”
Das Holz knackte, als sie ihren Fuß auf die Treppe setzte. Dann öffnete sie die Falltür über ihr. Staub, Nebel und das Licht eines blassen Morgenhimmels strömten ihr entgegen.