Tharamants Wächter

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139–208 minutes

Was bisher geschah

Es ist vorbei: Die reiche Stadt Tharamant zerfällt im Krieg zweier Armeen. Während die Heere ihren Streit austragen, verstecken sich die Einwohner der Stadt in den Kellern ihrer früheren Häuser.

Ancardia und ihr Ehemann Dahales geraten auf diesem Weg in die Kanalisation unter Tharamant, doch das ist nicht das Ende ihrer Reise. Als der Boden unter ihren Füßen nachgibt, stürzen sie in eine verborgene Welt, die älter als Tharamant zu sein scheint und von längst vergessenen Tagen erzählt. Doch in diese Ruinen eines verlorenen Volkes haben sich neue Einwohner hineingefressen: Ein Schwarm wilder Raubtiere treibt das Paar in sein Nest, um mit ihm seine Königin zu füttern. Dahales zieht ein Küchenmesser aus seinem Rucksack und trennt eine Klaue vom Arm der Bestie, fällt dabei aber einer anderen zum Opfer. Daraufhin reißt Ancardia die abgetrennte Klaue an sich und schlitzt den Eiersack der Königin auf. In einer Flut aus Schleim und Eiter verliert sie ihr Bewusstsein.

Währendessen fliehen Vherendie, Vedian und eine Gruppe Überlebender aus dem Bauch einer Kriegsmaschine. Sie übersehen dabei einen der Wachsoldaten, und nur mit letzter Kraft und einer Eisenstange schafft es Vherendie, den Angreifer zu überwältigen und zu töten. Im Keller eines alten Gasthauses versucht sie, ihre Tat zu vergessen, lernt aber schnell, dass sie mit ihr leben und nach vorne sehen muss. Sie beschließt daraufhin, ihre Eltern in den Ruinen der Stadt zu suchen, um mit ihnen aus Tharamant zu fliehen.

Doch nicht nur sie hat einen Plan, denn in einem anderen Teil der Stadt bricht ein Wanderer zum Rathausplatz auf. Er will die Kräfte eines Artefaktes entfesseln, das die Angreifer aus Tharamant vertreiben soll.

01: Murmelkompass

Am Horizont stieg eine grelle Sonne auf. Sie stach ohne Mühe durch den Staubnebel Tharamants, der wie eine grauer, fauler Rauch in den Straßen lag. Nach und nach teilte sie ihn in dünne, blasse Wolken, die schnell im blauen Himmel verschwanden, und klare Luft fiel in die Straßen ein. Sie kühlte die warmen Brandplätze der letzten Tage und suchte nach müden, hungrigen Lungen.

Nesfalador atmete tief ein und lauschte der schlafenden Stadt. Der Wind rauschte vom Meer hinauf und strich an glatten, halben Mauern vorbei. Heulend blies er Sandkörner in die Gravuren der gefallenen Obelisken und Statuen, zog an Efeublättern, die sich an die Fassaden der ärmeren Häuser klammerten, und pfiff durch die leeren Fenster der Bankentürme. Auf seinen Flügeln trug er eine zitternde Möwe, die als erste ihrer Art in den verlassenen Fresstempeln und Vorratskammern der Stadt landen wollte – unvorstellbare Reichtümer warteten auf sie.

Für ein paar Sekunden sah Nesfalador der Möwe hinterher. Dann hockte er sich hin und schraubte eine einäugige Brille auf, mit der er in Nacht und Ferne hineinsehen konnte. Nach ein paar Sekunden öffnete sie sich, und eine dicke, grüne Linse fiel in seine Handfläche, während er mit der anderen Hand eine schwarze Schachtel aus seinem Rucksack nahm. Er öffnete sie und blickte auf eine Reihe verschiedener, kleiner Glasscheiben, die in einem Polsterblock steckten. Keine Scheibe berührte die andere, und ein Steckplatz war frei. Hier setzte Nesfalador die grüne Linse ein, bevor er vorsichtig eine andere, klare aus dem Block zog, sie in das Okular einsetzte und die Brille zusammenschraubte.

Er setzte sie auf, kniff eins seiner Augen zusammen und sah in die Stadt hinab. Dort unten saßen sie, die Angreifer, klein und fern: Stählerne Heuschrecken wechselten von einer Seite des Rathausplatzes zur anderen, während Trupps aus schlanken Soldaten aus- und einschwärmten. An den Rändern des Platzes versteckten sie sich hinter Barrikaden aus Sandsäcken, aus denen nur noch die spitzen Läufe ihrer Gewehre ragten. Auf kleinen, dreibeinigen Zylindern saßen übergroße Kanonenrohre, die von einer Seite zur nächsten sahen, und auf der Straße, die in einem weiten Bogen um das ganze Rathaus führte, fuhr ein Panzerwagen. Als ihm ein anderer Wagen entgegenkam, wich er auf die Straßenbahnschienen aus.

Doch das war nicht das, nach dem Nesfalador suchte. Das Lager klapperte und trommelte, und vor dem Rathaus spannten sich dunkelblaue Zeltplanen, die unruhig im Wind flatterten. Ein Teil von ihnen bedeckte eine der riesigen, fünfeckigen Bronzeplatten, die wie an der Spitze eines Sternes im Boden ruhte. Nesfalador riss das Okular von seinem Auge und zog ein weißes Stück Kreide aus einer Tasche. Dann begann er, den Stern aufzuzeichnen: An jeden Strahl kritzelte er eine andere Rune. Er kreiste den Stern ein, warf fünf kleine Glasmurmeln auf den Boden und wartete.

Zuerst kugelten die Murmeln in alle Richtungen auseinander. Sie fielen über Fugen und blieben in kleinen Staublachen hängen. Doch dann zitterten sie und rollten aus eigener Kraft weiter. Wie in einem Strudel kreisten sie um den Stern, und jeder Umlauf zog den Kreis kleiner, bis sie sich schließlich in der Mitte trafen. Dort blieben sie stehen.

“Gewonnen”, murmelte Nesfalador. Sein Ziel lag tatsächlich am Rathausplatz, zwischen den fünf Platten, die im Boden ruhten, und nun musste er nur noch einen Weg ins Zentrum finden und dort das Artefakt aufbauen.

Dort unten, im Basislager der Invasoren.

Nachdenklich stand er auf und starrte auf den Platz hinab. Er drehte ein paar Kräuter in eine kleine Rolle Papier hinein, zündete diese mit einem Streichholz an, führte sie mit zwei Fingern zum Mund und atmete tief ein. Ihm wurde warm, und die Stadt, in der er stand, färbte den bleichen Morgen wie den hellsten Tag. In den Ruinen blitzte Buntes hervor, und der wolkenlose Himmel leuchtete blau herab. Nesfalador sah eine neue Möwe, die klein und zitternd über den Dächern kreiste.

Er starrte in die Leere und zog an seiner Zigarette. Schon nach kurzer Zeit war sie zu klein, um sie zwischen den Fingern zu halten. Er atmete langsam aus, drückte sie auf den Boden und nahm ein weiteres Blatt Papier aus der Tasche. Erneut legte er ein paar trockene Kräuter auf ihm aus und drehte eine Rolle, zündete sie an und sah einer Möwe hinterher. Vielleicht war es noch immer die, die er vorher gesehen hatte, doch das spielte keine Rolle: Sie setzte sich auf einen Turm und sah auf ihr neues Reich herab, und zu ihren Füßen sah Nesfalador die Antwort auf seine Frage.

Alles war plötzlich so klar. Unter dem Turm in der Ferne marschierten weitere Maschinenheuschrecken. Neben ihnen rollten Panzerwagen und kleinere Fahrzeuge mit breiten Rädern, die große Batterien aus langen Rohren auf ihren Dächern trugen. Nesfalador kannte diese Fahrzeuge, doch sie trugen eine ganz andere Farbe auf ihren Panzern als die Soldaten, die den Rathausplatz bewachten.

Nesfalador lächelte. Er wusste nun, was er tun musste.

02: Staubmorgen

Ein Windhauch strich durch Vherendies Haare. Er kam vom Meer, kalt, anders, als sie es von einem Morgen im Spätsommer erwartete. Während sie ihren Kopf drehte und dem Lauf des Windes folgte, konnte sie durch eine breite Gasse bis zum Hafen hinabsehen: Hier schaukelten die brüchigen, abgenagten Wracks der Frachtgaleeren. Halbe Segeltücher flatterten in grauen Fetzen um schräge Masten herum, die an den zerbrochenen Stegen und Kais lehnten. Nur wenige Schiffe hatten die Brände der letzten Tage überlebt, und einige von ihnen trieben abseits der Stege auf den Wellen.

Noch viel weiter unten am Hafen lagen jedoch drei Schiffe, auf denen das Leben tobte. Vherendie hatte noch nie Schiffe dieser Bauart und Größe gesehen: Ihre breiten, flachen Decks schimmerten grau im Licht der aufgehenden Sonne, als hätte man sie aus Stahl gegossen. Am hinteren Ende trugen sie flache, eckige Türme, und in ihrer Mitte eine Rampe, die tief in ihren Bauch führte. Lastkräne verluden allerlei Maschinen, von denen Vherendie nur die mechanischen Heuschrecken der Angreifer erkannte, und das dritte Schiff trug keine Laderampe in seiner Mitte: Stattdessen prangte eine lange Straße auf seinem Deck, und an beiden Seiten ruhten kleine, dreieckige Maschinen, die ihre langen Flügel im Sonnenlicht spreizten.

“Vherendie, steh’ da nicht so rum!”

Sie drehte ihren Kopf. Vedian stand eine Häuserlänge vor ihr, und erst im Licht der Morgensonne fiel ihr auf, wie viel Staub er in seinem Gesicht trug. Obwohl die Staubschicht ihn hätte breiter machen müssen, sah es aus, als hätte er abgenommen: Vielleicht lag es daran, dass sie die Kraft in den Muskeln unter seiner Haut und den rauen Bartstoppeln nicht mehr sehen konnte, doch ein Blick in seine Augen verriet ihr, dass da keine Kraft mehr war, die sich verstecken konnte.

Langsam ging Vherendie auf ihn zu.

“Hast du dir den Hafen angesehen?”, fragte sie.

Nein, hatte er nicht.

“Was ich in den letzten Tagen gesehen habe, reicht mir”, sagte er und ging weiter. “Je mehr Wege ich sehe, meinen Kopf zu verlieren, desto stärker wünsche ich mir, dass das auch bald passiert.”

Vherendie folgte ihm schweigend durch die leeren Straßen. An beiden Seiten lehnten zwei- bis dreistöckige Häuser mit glatten, haargenau verputzten Fassaden. Blasse Treppen führten zwischen dünnen Säulen unter Vordächern zu Eingangstüren, die man in der Regel aus schweren, dunklen Hölzern gezimmert hatte. Vherendie kannte diese Hölzer, konnte sie aber nicht auseinanderhalten – sie wusste nur, dass sie in selten besuchten Regionen des Waldes von Gadagor wuchsen.

Sie hatte nie bemerkt, wie viele kleine Banken und Anwälte in Tharamant ihren Sitz hatten. Sie kam am Bankhaus von *Goldsack und Partner* vorbei, einer Bank, von der sie noch nie gehört hatte, und für eine Sekunde hielt sie den Namen für einen Witz oder zumindest für ein verkapptes Theater, in dem sich die alternativen Bürger der Stadt trafen, um Witze über eine Volksgruppe zu reißen, die indirekt ihren Lebenstil finanzierte. Doch das hier war echt: Hinter zerbrochenen Fensterscheiben sah Vherendie einen gähnenden, leeren Tresorraum.

“Wer nennt denn seine Bank Goldsack und Partner?”, fragte sie.

“Viel interessanter finde ich eine andere Frage”, entgegnete Vedian. “Wer räumt in diesen Zeiten einen Tresor aus? Ich glaube kaum, dass mir ein paar Münzen jetzt noch ein Brot kaufen können.”

Sie gingen ein paar Schritte weiter.

“Es sei denn, ich schaffe es aus der Stadt und nach Diamant, Antodun oder sogar Gadagor”, fügte Vedian hinzu, während sie durch eine Kurve gingen. “Aber wie ich das mit einem Sack voller Geld unter den Armen schaffen soll, weiß ich auch nicht.”

Vherendie nickte und sah sich um. An den Eckpfeilern einer Anwaltskanzlei rankten sich steinerne Seeschlangen mit scharfen Zähnen empor. Auf der flachen Wand am Gebäude gegenüber hatte ein Künstler eine stolze Galeone eingemeißelt, die ihre Masten bis ins erste Stockwerk hineintrug und auf einer mächtigen Welle zur Straße ritt. Der Sturm blähte ihre Segel, und das Meer hinter ihr toste und schäumte. Neben der Galeone sah Vherendie zwei weiße Säulen, aus denen Meermänner wie Galionsfiguren herauswuchsen und scharfe, gezackte Harpunen in den Himmel streckten. Offenbar hatte sich der Staub der Stadt nicht auf alle Flächen gelegt, und so glänzten ihre starren Brustmuskeln in der Morgensonne, als hätte man sie erst vor wenigen Minuten poliert. Sie wandte ihren Blick ab und sah zwischen die Säulen. Hier las sie einen Namen auf der Goldplakette über der Eingangstür : Istadanor Seefahrt Versicherungen, 931 nach Gründung Tharamants.

“Vherendie, bitte trödel’ nicht”, sagte Vedian, und Vherendie erschrak, weil seine Stimme so laut durch die leere Straße hallte. “Du bleibst schon wieder stehen.”

“Ich weiß”, murmelte sie und blickte auf die strahlende Plakette. “Aber ich kenne diesen Teil der Stadt nicht so gut. Klar, ich… Ich *kenne* ihn. Aber ich kann mich nicht daran erinnern, jemals mit so wachen Augen durch diese Straßen gegangen zu sein.”

Vedian nickte und ging ein paar Schritte auf sie zu. Dann sah auch er zur Eingangstür hinauf.

“Ich war hier noch nie”, sprach er. “Aber ich kann mir vorstellen, was dir gerade durch den Kopf geht. Du stellst dir vor, dass diese Plakette das einzige ist, das in hundert, zweihundert, fünfhundert Jahren von Tharamant übrig ist – das einzige Zeugnis tausender Menschen, die hier gelebt haben …”

“… und gelitten, gelernt, gefeiert, gelacht, und was auch immer.”

“Geliebt, hast du vergessen. Ganz wichtig”, murmelte er, und als sie ihn ansah, spürte sie ihr Herz klopfen. Sie wusste nicht, wie sie seinen Blick deuten sollte.

“Soll mich das aufbauen oder deprimieren?”, brummte sie. “Denn auch wir werden unter den Namenlosen sein, wenn die Geschichte uns vergessen hat. Ganz gleich, ob wir uns lieben oder hassen. Wir werden früher oder später mit dem Staub fliegen, der diese Stadt verlassen hat.”

“Das ist deine Meinung”, entgegnete er und seufzte. “Und ich lasse sie dir, denn was bleibt mir anderes übrig. Aber ich sehe das anders. Auch wenn wir auf ein vorherbestimmtes Ende zugehen, auch wenn wir irgendwann mit dem Staub fliegen, so hindert uns das nicht daran, vorher eine andere Bedeutung als die Unendlichkeit zu suchen.”

Mit diesen Worten wandte er sich von ihr ab und schritt die Straße hinauf. Sie sah ihm einen Moment hinterher. Dann schnaufte sie eine lose Strähne aus ihrem Sichtfeld und folgte ihm. Hinter der Kurve standen die Häuser nur noch in ausgefransten Mauern am Rand der Straße. Mehrere Säulen hatten sich auf das Straßenpflaster geworfen, und eine enthauptete Statue lehnte an der hüfthohen Seitenwand eines Büros für Wertpapierprüfer. Glasfenster lagen in Scherben auf dem Boden, und an der Stelle, an der die Straße in eine Kreuzung mündete, türmte sich ein Hügel aus Trümmern auf, der aus dem Bankenturm an der Straßenecke gebrochen war.

“Geht es dir wieder besser? Hast du Schmerzen?”, fragte Vedian. Er deutete auf den Trümmerhaufen, der Vherendie bis zum Hals reichte. “Denn wir müssen klettern.”

Sie nickte und rückte ihre Brille ein Stück nach oben.

“Ja, ich weiß. Mir geht es gut.”

“Wenn ich daran denke, dass der Kerl dich gestern fast umgebracht hätte”, murmelte er. “Dann freut es mich, das zu hören.”

“Wenn ich ehrlich bin”, fügte sie hinzu, “dann freut mich das auch.”

Sie streckte ihre Arme aus. Dann stemmte sie einen ihrer Füße gegen den Trümmerhaufen, hielt sich mit ihren zitternden Händen fest und stemmte sich auf die Spitze des Hügels. Unter ihr brachen ihre Stiefel Putz aus dem Fels, und sie spürte, wie ihre Hose an einem scharfen Stein hängen blieb, der aus dem Haufen ragte. Auf der Höhe ihres Knies riss er ein Loch in den dünnen Stoff.

Vherendie stand auf und setzte ihren Fuß vorsichtig auf ein paar Mauerblöcke, die wie schiefe Grabsteine aus dem Hügel in die Höhe wuchsen. Hinter ihr hob sich Vedian über die Trümmer, und vor ihr lag eine graue Allee. An ihren Seiten lehnten weitere Häuser, in denen die kleinen Banken Tharamants ihre Kunden beraten hatten, und auf dem Gartenstreifen in der Mitte der Straße starben dicke Eichen, die im Feuerhagel alles verloren hatten. Ausgebrannt streckten sie die Reste ihrer kahlen Äste in den blauen Himmel und warteten darauf, dem Staub zu folgen.

Leise zog der Wind durch die Straße. Er hob ein paar lose Zeitungsblätter vom Pflaster und schlang sie um einen Laternenpfahl, der wie ein entwurzelter Baum in einem Krater lag. Vherendie sprang vom Hügel hinunter. Der Rucksack auf ihrem Rücken schwang hin- und her, als sie sich mit den Füßen abfedern wollte und nach vorne stolperte. Nachdem Vedian hinter ihr gelandet war, lauschte sie der Stille, die über Tharamant lag. Ihr Herz klopfte, und jeder einzelne Schritt auf diesem Pflaster klang in ihren Ohren so laut, dass sie glaubte, ihre Schritte in die fernsten Winkel der Stadt zu schicken; und die fernsten Winkel antworteten mit dem Donner, der aus Gewehren schoss, und mit dem Feuer, das die Stadt an nur einem Tag verschlungen hatte, und mit den Schreien, die im Nichts verhallten.

Zitternd hob sie ihre Hand und starrte auf den Schnitt, der in ihrer Handfläche lag. Staub lag an seinen Rändern und mischte sich mit einem Bluttropfen, der am unteren Ende aus der Wunde trat. Sie wischte ihn an ihrer Hose ab und sah zu Vedian.

“Wir sind die letzten”, schnaufte er. Der Schweiß glänzte auf seiner Stirn. “Die letzten Menschen in dieser Stadt. Auf diesem ganzen Kontinent. So fühlt sich das an. Mir gefällt das nicht.”

“Mir auch nicht”, antwortete sie und nickte ihm zu. “Und ich bin in die falsche Richtung gegangen. Ich spüre es.”

“Was meinst du damit?” Vedian runzelte die Stirn. Dann hoben sich seine Augenbrauen und er schüttelte langsam den Kopf. “Nein. Sag’ das nicht, bevor du dir nicht sicher bist.”

Vherendie starrte ihn an, vorbei an dem Riss, der sich durch ihr Brillenglas zog. Der Wind warf eine dunkle Strähne vor ihre Augen.

“Gut”, sagte sie schließlich. “Dann lass’ uns weitergehen.”

Mit diesen Worten drehte sie sich um und ging die Allee hinab. Jeder Schritt ließ ihr Herz schneller schlagen. Schon bald sah sie nicht mehr, welche Häuser an ihr vorbeizogen. Ihre Sicht verschwamm, und je näher sie der Straße kam, in der sie aufgewachsen war, desto schwerer wogen ihre Beine. Trotzdem rannte sie, bis sie Vedian nicht mehr hören konnte und in eine Straße kam, in der kleine Wohnhäuser inmitten ihrer Gärten wuchsen. Nur noch wenige von ihnen standen.

03: Weiß

*Wo bin ich?*

Ancardia schnappte nach Luft. Schleim floss über ihr Gesicht und tränkte ihre Haare, und sie schlug mit den Armen um sich, um die glibbernden Bälle aus dem Weg zu schlagen, in denen die ungeborenen Beinwürmer zappelten. Um sie herum kreischte und schrie der Schwarm, und die Schwarmkönigin röhrte wie ein sterbender Wal am Strand. Fauchende Flammen füllten die Höhle mit Hitze. Schüsse ratterten durch die Höhle, wie tiefe Trommeln, die ein geisteskranker Trommler mehrere Male pro Sekunde schlug. An einem der Eingänge strahlte helles Licht – grelle, weiße Flammen brannten sich durch den Schwarm, und Mündungsfeuer blitzte auf, wann immer die Trommeln schlugen.

Ancardia fiel auf den Boden und sah den Kopf der Bestie über sich hängen. Er platzte an seiner Spitze auf, und es sah aus wie Ballon, der mit blaugrünem Blut gefüllt war. Der lange Hals zuckte wie der eines geköpften Huhns, bevor er schlaff zusammensackte und in einer Wolke aus Flammen verschwand. Ancardia schrie, als die Hitze an ihr Gesicht drang. Sie hielt die Hände vor ihre Augen und drehte sich auf den Bauch. Ihre Nase hing nur knapp über dem stinkenden Schleim, der auf dem Boden lag, und sie spürte, wie einige Eier auf ihrem Rücken und den Beinen landeten. Vor ihr platschte eins auf den Boden und drängte den Schleim in ihr Gesicht, sodass sie ihren Kopf zur Seite riss und sehen konnte, was in der Halle vor sich ging.

*Nein. Sie dürfen mich nicht sehen.*

Ancardia wagte es nicht, sich zu bewegen. Zwischen den sterbenden Beinwürmern standen drei schlanke Gestalten, und ihre Rüstungen spiegelten das blassgrüne Licht der Höhle. Die Gestalten feuerten in alle Richtungen, und einer von ihnen trug etwas in den Händen, aus dem eine breite Flamme schoss. Der Schwarm umzingelte die Soldaten, schaffte es aber nicht, seine Klauen und Mäuler in sie zu schlagen. An den Seiten kletterten die klügeren Tieren an den Wänden hinauf und verschwanden in dunklen Löchern, bis es in der Höhle keinen lebenden Wurm mehr gab. Ihre Schreie verstummten, und nur die Metallstiefel der Soldaten schepperten durch die leere Halle.

“Scheiße, war das geil!”, rauschte es aus einer der Rüstungen. Der Hall trug die Stimme bis zu Ancardia, die zwischen den schwabbelnden Eiern der Bestie lag. “Für einen Moment dachte ich, die kriegen uns, aber dann taten sie’s nicht. Voll geil!”

“Beruhig’ dich, Mann”, grunzte der Soldat, der den Flammenwerfer führte. “Da sind immer noch viele von denen hier unten und wir wissen nicht, wie viele Nester es gibt. Cas muss hier unten ein paar Kammerjäger ‘reinschicken, wenn er mit Bit fertig ist. Die Dinger können eine echte Plage werden.”

“Ich meld’ mich freiwillig, Alter”, sprach der erste. “Aber sowas von. Diese hässlichen Scheißviecher! Die sind ja noch einfacher zu töten als die Eingeborenen.”

“Was auch immer”, antwortete der andere Soldat. Ancardia riss ihre Augen auf und hielt die Luft an, als sie glaubte, dass er sie direkt ansah. “Wir gehen zurück zum Wrack, erstatten Bericht und stoßen dann zu den Truppen ins Zentrum vor.”

“Scheiße, ja. Wir treten Bit in den Arsch und danach geben wir Tharamant ‘ne Wurmkur. Der Tag kann nicht besser werden. Gehen wir!”

Sie drehten um und verschwanden in einem der Tunnel. Ihre Schritte wurden leiser und verschwanden schließlich in der Leere. Ancardia schreckte hoch und sprang auf ihre Füße, denn in der Ferne hörte sie die Beinwürmer schreien. Sie hatte nicht viel Zeit.

04: Bürgerkrieg

Bit hielt den Schraubenschlüssel fest in seiner rechten Hand, legte ihn an eine lose Mutter und drückte ihn nach unten. Als er ihn halb um die Schraube gedreht hatte, nahm er den Schlüssel ab und legte ihn erneut an, drückte fest nach unten und und fühlte, wie jeder neue Zug seine Muskeln fester spannte. Die Morgensonne in seinem Rücken trieb den Schweiß in das innere Polster seiner Rüstung, und die schlaflose Nacht steckte noch tief in seinen Knochen. Mit kleinen Augen blickte er auf die nächste Mutter, die er festziehen musste. Nur noch zwei, dann konnte er das Geschütz aktivieren, an dem er arbeitete.

Obwohl der Aufgang der Sonne über Tharamant neuen Mut in ihm geweckt hatte, war es vor allem die letzte Stunde, die ihn einen neuen Horizont sehen ließ. Die Soldaten am Rathausplatz taten alles, um das Lager gegen den kommenden Sturm zu sichern, gegen ihre Brüder, die unter dem Befehl eines abtrünnigen Generals standen. Sie stellten Panzersperren in den Straßen auf und spannten dünne Drähte, an deren Ende Sprengsätze saßen. Sie positionierten automatische Waffen, die ohne menschliche Hilfe nach Zielen suchten und sie ausschalteten; und sie versteckten Sturmschrecken und Panzer in kleinen Seitengassen, um den Feind in einen Hinterhalt zu locken. Scharfschützen saßen in den hohen Bürohäusern, versteckt hinter den flachen, weißen Fassaden, und an den Straßen zum Rathausplatz schütteten die Soldaten Sandsäcke auf, um hinter ihnen in Deckung zu gehen.

Er richtete sich auf und sah über den Platz. Dort, wo keine Säcke, Kisten oder Sturmschrecken standen, glänzten große, fünfeckige Bronzeplatten zwischen dem Pflaster hervor. Es waren fünf an der Zahl, und sie formten die Eckpunkte eines weiteren Fünfecks, das den Rand des Rathausplatzes markierte. Jede von ihnen trug eine andere Gravur. Schriftzeichen, die er nicht lesen konnte, umrandeten verschiedene Symbole, etwa einen Händedruck oder einen Stapel Goldbarren. Bit war sich sicher, dass diese Bilder einen Wert für Tharamant besaßen, doch das spielte keine Rolle mehr.

An Monitoren, die an der Seite eines Radpanzers standen, lenkten Piloten ferngesteuerte Drohnen durch die Stadt. Größere Jäger und Luftschiffe hätte Cas mit seinen Geschützen vom Himmel holen können, doch die Drohnen waren zu klein und zu flink, und mit ihren Bordwaffen konnten sie zumindest Sperrfeuer legen, um den Vormarsch der Truppen zu stören. Andere Soldaten koordinierten verschiedene Trupps per Funk, und wieder andere beluden eine Sturmschrecke mit Treibstoff und frischer Munition. Auf einer Barrikade am Rand des Platzes montierte ein Techniker einen Raketenwerfer, um die Position gegen die Fahrzeuge von Cas zu schützen.

Bit drehte sich um und blickte zur blassen Rathauskuppel, die in den blauen Himmel hineinragte. Es war eins der letzten Gebäude, das noch unversehrt in der Stadt stand. Zumindest fast – von den fünf Marmorgaleeren, die sich vor der Kuppel wie Pferde aufbäumten, reckten nur noch vier ihren Bug in die Höhe. Das Gebäude war nun leer, und die fetten Politiker, die sich in ihm versteckt hatten, saßen am Bahnhof bei den anderen Gefangenen.

Schnaufend sah Bit über den Rathausplatz. Eine Sturmschrecke trampelte am äußeren Rand vorbei, und ihre silbernen Panzerplatten schimmerten blass unter schwarzen Rauch- und Schmauchspuren. Ihr hinteres Bein rauchte und klapperte unter jedem Schritt, wodurch das ganze Fahrzeug humpelte wie ein verletztes Tier. In seiner Seitenwand klaffte ein Loch, durch das Bit ins Innere des Fahrzeugs sehen konnte: Die Soldaten in der schaukelnden Schrecke hielten sich an Griffen fest, die an der Decke hingen.

Nach ein paar Metern sprang ein Soldat aus dem Loch in der Fahrzeugwand heraus und landete fest mit beiden Füßen auf dem Boden. Er trug keinen Helm und sah aus weiten Augen über den Platz, doch Bit erkannte den Blick sofort: Auch dieser Soldat hatte in der Nacht keine Ruhe bekommen.

Als das Sonnenlicht ihn blendete, kniff der Mann die Augen zusammen und hielt seine Hand vor sein Gesicht. Er drehte seinen Kopf zu allen Seiten, als ob er jemanden suchte. Bit warf den schweren Schraubenschlüssel auf den Boden und ging ein paar Schritte auf den Soldaten zu: Sein Gesicht war runder als das der meisten seiner Männer, und die Wangen floßen weich zu seinem Kinn hinab. In seinen Augen glaubte Bit, Ideen zu entdecken, die er selber gehabt hatte, als er jung gewesen war.

“Eroberer Bit?”, fragte der Mann. In seiner Stimme schwang schon jetzt die Geschichte der vergangenen Nacht. Bit nickte.

“Stehen Sie frei, Soldat. Was gibt es?”

Der Soldat senkte seine Hand und nahm einen Beutel, der an der Hüfte seiner Rüstung hing.

“Scento Temm ist mein Name. Ich habe gerade Scallias’ Trupp aus Sektor J4 zurückgeführt”, sagte er, schnappte kurz nach Luft und hielt ihm den Beutel entgegen. “Scallias Tek. Wir wurden von einer Sturmschrecke angegriffen. Von… Von unserer eigenen.”

Scarve blickte ihn stumm an, verengte seine Augen und trat einen Schritt näher heran.

“Sturmschrecke SC-B-Drei-Eins-Sieben, um genau zu sein”, sprach Temm. “Wir konnten uns retten, indem wir ein Loch hineinsprengten und die Besatzung ausschalteten. Wir haben ihre Speichersteine, unter anderem den von Tek.”

Bit blickte erst auf den Beutel, dann auf die Sturmschrecke, die am Platz vorbeiging.

“Unsere eigenen Truppen wenden sich gegen uns?”

Temm nickte.

“Bestätige. Als wir die Fahrerkabine stürmten, richteten sie ihre Waffen auf uns. Wir mussten… Wir mussten sie auschalten.”

Bit starrte ihn an.

“War es ein Missverständnis?”

Temm schüttelte den Kopf.

“Wir hatten schon den halben Trupp verloren”, fuhr er fort. “Dann teilte Scallias – Truppführer Tek, meine ich – den Rest auf und ordnete den Rückzug in die Straßen an. Er wurde darauf beim Positionswechsel von der Sturmschrecke erfasst und getötet.”

“Das ist unmöglich”, erwiderte Bit. “Meine Leute sind loyal.”

Der Soldat hob die Augenbrauen und holte tief Luft, bevor er sprach.

“Bei allem Respekt”, sagte er. “Aber die Fahrerbesatzung war nur einen Schritt davon entfernt, ‘Heil Cas!’ zu rufen, Eroberer.”

Bit sah zur Seite. Ein Radpanzer fuhr über eine der glänzenden Bronzeplatten am Boden. Als er an den Rand kam, schob die Kante der Platte die Achsen des Wagens nach oben, wie bei einem Tausendfüßler, der über einen dürren Ast klettert.

“Das ist nicht gut”, murmelte Bit. “Wenn ich Ihren Bericht höre, dann fürchte ich, dass wir den Kampf schon verloren haben. Ich muss Kontakt zu den einzelnen Truppführern aufnehmen, nachdem ich mit Drit, Khan oder Jed gesprochen habe. Kommen Sie mit!”

Er drehte sich um und lief zum Kommandozelt, dessen dunkle Planen so weit im Wind wehten, dass er unter ihnen hindurch ins Zelt sehen konnte. Die starken Füße des Kartentisches standen im Zentrum, und an der hinteren Zeltwand liefen Kabel über den Boden, die sich wie kalte Kletterpflanzen zu einem Bildschirm hochrankten. Im Inneren wich das Sonnenlicht dem Kampf von orangen und blauen Lichtern, die von Tisch und Bildschirm kamen – jedoch nur dann, wenn die Planen auf den Boden trafen.

Wortlos trat Bit an den breiten Bildschirm im Zelt und berührte ihn an verschiedenen Stellen, um eine Übersicht der gesamten Hierarchie seiner Armee aufzunehmen. Unzählige kleine Karten mit den Bildern verschiedener Soldaten tauchten auf dem Schirm auf; unter den meisten von ihnen leuchtete eine rote Schrift auf.

“Was ist da los…?”, murmelte Bit. Dann zählte er; es dauerte keine zwei Sekunden.

“Wie konnte ich sechzehn Truppführer verlieren, ohne davon zu erfahren?”, ächzte er. “Kein Alarm. Keine Nachricht. Jed ist weg. Scheiße!” Er tippte auf dem Bildschirm herum und versuchte, die Position der gefallenen Soldaten zu ermitteln. Die Lautsprecher spuckten ein paar kratzende Töne aus, und der Schirm gab keine Antwort.

Hinter ihm räusperte sich Temm.

“Verzeihen Sie, Eroberer”, sagte er. “Aber da ist noch etwas.”

Bit drehte sich um und ging zum Kartentisch. Blaue und rote Dreiecke, Kreise und Rechtecke schwebten über den Grundriss von Tharamant wie Fischschwärme, die durch ein Korallenriff schwimmen.

“Erzählen Sie”, brummte er und sah den Symbolen auf der Karte zu.

“Wir haben die Besatzung der Sturmschrecke identifiziert”, sagte Temm. “Es handelte sich bei Ihnen um die Piloten Bik und Wes, die uns vorher als vermisst gemeldet wurden. Zusammen mit der Schrecke. Ihre Speichersteine fanden wir nicht, und als ein Trupp der Sache nachgehen wollte, gaben die Piloten persönlich Entwarnung, schlossen sich unserem Trupp an und eröffneten etwa zwei Stunden später das Feuer auf unsere eigenen Männer.”

“Großartig”, nickte Bit, schüttelte den Kopf und beugte sich über den Tisch. “Einfach großartig. Ich fühle mich wie ein getretener Hund. Der Weltenmeister weigert sich, mit mir zu sprechen, Cas richtet unsere Leute gegen uns, einige der Einheimischen stehlen unsere Speichersteine – töten Sie jeden, der einen mit sich trägt! – und allein in der letzten Stunde haben wir einunzwanzig Speichersteine der Einheit BT-17 verloren, Sturmschrecke SC-B-312 muss zur Reparatur, und die Panzerabwehr BT-21 ist eingekreist. Wenn ich nicht wüsste, dass ich nicht verlieren kann, dann würde ich jetzt kapitulieren.”

“Sie haben doch den Bürgerkrieg überlebt, wenn ich mich nicht irre?”

Bit sah auf und verkleinerte seine Augen. Dann holte er tief Luft und blickte Temm an. In seinem runden Gesicht erkannte er, dass er noch nicht all zu viele Zyklen hinter sich haben konnte.

“In der Hoffnung, auf der richtigen Seite zu stehen”, sagte er. “Ja, habe ich.” Er schwieg für einen Moment und richtete sich dann auf, ging ein paar langsame Schritte zum Monitor und schaltete ihn aus.

“Doch der Bürgerkrieg war eine andere Geschichte”, erklärte er. “Ich weiß nicht, was man Ihnen erzählt hat, aber es war kein Kampf ohne Ausweg. Cas, Sim und ich standen Seite an Seite und schlugen einen Sklavenaufstand nieder, der einige Wachmänner auf seine Seiten gezogen hatte. Ein paar Offiziere schlossen sich dem Widerstand an, und sie kämpften sich bis zu den Oberen Hallen empor. Doch zur selben Zeit befahl der Weltenmeister, die ersten Stahlschreiter und Sturmschrecken zu bauen, und was hatten ein paar Sklavenwärter schon dagegen auszurichten? Wir schalteten die Verräter aus, warfen sie zu den anderen Sklaven und nahmen ihnen ihre Speichersteine ab, auf dass sie alt werden und dann sterben mussten.”

Temm nickte, doch sein Blick zeigte, dass er die Geschichte nicht ganz verstand.

“Das sieht nach einer angemessenen Bestrafung für die Aufständischen aus”, erwiderte er.

“Sieht es das?”, fragte Bit. “Unmittelbar vor dem Aufstand gab es Stimmen, die ein paar Fragen stellten. Zum Beispiel: Warum war man ein Sklave, nur weil die Mutter ein Sklave war, und warum durften nur die Kinder von Soldaten auch Soldaten werden? Und wofür brauchten wir überhaupt Soldaten? Erfinder und Techniker prügelten ihre Kinder durch Physik, Chemie und Mathe, auch wenn sie keinerlei Begabung dafür besaßen, und Schriftsteller zwangen ihren Nachwuchs, Theaterstücke zur Glorie des Weltenmeisters zu schreiben, ob sie denn nun wollten oder nicht. Unruhe breitete sich unter den jungen Menschen aus, und genau in diesem Moment erhoben sich die Sklaven, angeführt von einer Frau, die scheinbar aus dem Nichts gekommen war.”

Bit ging zum Kartentisch hinüber und schaltete auch ihn aus. Das orange Licht, das von ihm ausging, wich dem Tageslicht, das unter den Planen in das Zelt kroch.

“Ich habe davon erst lange nach dem Bürgerkrieg erfahren”, fuhr er fort. “In einer Zeit, in der der Weltenmeister uns über den ganzen Planeten jagte, um Artefakte aus einer längst vergangenen Ära zu sammeln. Die Dinge waren nicht das, was sie schienen – wenn man nur lange genug unter dem Weltenmeister lebt, erkennt man das. Und das ist vermutlich der Grund, warum er mich ausschalten möchte. Wir haben -“

Er hielt inne, weil in diesem Moment ein weiterer Soldat durch den wehenden Eingang ins Zelt trat. Er salutierte, während er seinen Helm unter dem linken Arm trug.

“Eroberer Bit”, sprach er. “Einer der Einheimischen hat sich uns gestellt. Er sagt, dass er Ihnen helfen kann, die Truppen von Cas zu vernichten. Aufklärer Skatt hat ihn gefunden.”

Bit sah zu Temm und nickte ihm zu.

“Nun, was der Krieg doch an Ratten gebiert”, sagte er. “Das muss ich mir wenigstens ansehen.”

05: Schlafmittel

Vherendie rannte durch eine Tür, ohne sich daran zu erinnern, dass sie einen Schlüssel benutzt hatte. Sie hielt sich mit einer Hand an einem Geländer fest, sprang über dunkle, dumpfe Treppenstufen und schwang um eine Ecke durch einen offenen Türrahmen.

Erst hier blieb sie stehen, in der dunklen Stille, in der nur noch ihr Herz und ihre Lungen tobten. Sie wischte eine schweißnasse Strähne aus ihrem Sichtfeld, nahm die kaputte Brille von ihrer Nase und legte sie auf eine nussbraune Kommode, die neben ihr an der Wand stand. Langsam schlich sie einen Schritt über den knackenden Dielenboden und lehnte sich an einen Kleiderschrank mit schweren Türen. Gegenüber von ihm hing eine schwere, dunkelrote Gardine vor einem verschlossenen Fenster.

In der Mitte des Raumes sah Vherendie ein Bett. Sie kannte dieses Bett und die roten Laken und Tücher, auf denen zwei alte Menschen ruhten, Mann und Frau, leblos und ohne Atem. Der Mann hatte seinen Arm um die Schulter der Frau gelegt, die an seiner Seite lag. Ihre Hand schlief auf seiner Brust, und ein silberner Ring blitzte an ihrem Finger.

“Mama”, hauchte Vherendie und griff nach der Kette, die um ihren Hals hing. Unter ihren Fingerspitzen fühlte sie ein glattes Stück Jade, das ein Schmuckschmied vor vielen Jahren zu einem Falken geschnitzt hatte. Sie hatte als Kind immer darauf herumgekaut, und ihre Mutter hatte geschimpft, dass sie das lassen sollte, und als Vherendie daran dachte, schluchzte sie und sah die beiden alten Menschen auf dem Bett an. Der graue Bart ihres Vaters lag an der Stirn ihrer Mutter. Sie selber hatte ihre grauen, gelockten Haare mit einem Haarreifen nach hinten gesteckt und trug das dunkelgrüne Sommerkleid, das-

“Vherendie, was ist los? Was ist passiert?”

“Halt die Klappe, Vedian”, murmelte sie, ohne ihn anzusehen. “Geh’ nach unten und warte. Oder geh’ weiter. Ich weiß es nicht. Lass’ mich alleine.”

Sie hörte, dass er zögerte. Nach ein paar Sekunden schritt er langsam über den Dielenboden und stieg die Treppe hinab.

Mehr interessierte sie nicht.

Mit schwachen Schritten schlurfte sie an einen kleinen Tisch heran, der neben dem Bett stand. Auf ihm lagen eine Uhr und eine kristallblaue, leere Flasche. Vherendie nahm die Flasche in ihre Hand und sah auf das Etikett, auf dem dunkelblaue Schnörkel und Ranken einen Schriftzug umspielten.

<center>”Blauer Regen. Genuss in Maßen.”

Als Vherendie die Flasche wieder zur Seite stellte, verschwamm die Welt erneut vor ihren Augen. Sie hatten so viel überlebt – Flucht und Hunger, Hass und Angst. Warum nicht auch das?

Zitternd wischte sie die Tränen aus ihren Augen, ging um das Bett herum und trat an die Gardine, die vor dem Fenster hing. Sie holte tief Luft und sah zu ihren Eltern. Dann zog sie die Gardine ein Stück zur Seite. Ein heller Sonnenstrahl fiel auf das Gesicht ihrer Mutter, leuchtete durch ihre Haare und in die tiefen Täler ihrer Falten. Als sie den Spalt noch etwas weiter öffnete, traf das Licht auch ihren Vater.

“Danke für alles”, flüsterte sie.

Sie senkte den Kopf und verließ das Zimmer. Langsam stieg sie die Treppe hinunter und lauschte ihren dunklen Schritten, die irgendwo im leeren Haus verschwanden. Unten trat sie durch die offene Tür in den Vorgarten, und ein paar Schritte vor ihr stand Vedian in der Morgensonne. Er hustete, und von der Spitze seiner rechten Hand stieg dünner Qualm in die Luft.

“Seit wann rauchst du denn?”, fragte Vherendie. Sie wischte die letzten Tränen aus ihren Augen und setzte ihre Brille wieder auf. Erst jetzt erkannte sie, dass Vedian die Zigarette in seiner Hand schon zur Hälfte niedergebrannt hatte.

“Seit jetzt”, brummte er und hustete in seine freie Hand. “Was macht es schon. Hab’ die Schachtel von Yacinda.”

“Von Yacinda? Yacinda von den Wellen?” Vherendie trat neben ihn und warf ihre Stirn in Falten. Er sah sie an, als ob seine Augenlider müde und schwer gen Boden sinken wollten.

“Ja. Yacinda von den Wellen. Ich sprach mit ihr, als du schliefst. Sie wollte aufhören, ich wollte anfangen.” Er kniff die Augen zusammen und sah zum Haus hoch, aus dem sie gerade gekommen war. “Hatte auf den richtigen Zeitpunkt gewartet.”

Vherendie sah von seinen Augen ab und starrte die Zigarette zwischen seinen Fingern an. Er führte sie langsam zum Mund und zitterte wie ein Junge, der heimlich an der Zigarre saugt, die er aus dem Arbeitszimmer seines Vaters geklaut hatte.

“Willst du auch?”, fragte er.

“Ich denk’ ja nicht dran”, knurrte sie. “Ich will weiter. Ich bin hier fertig.”

Vedian zog noch einmal an der Zigarette, dann warf er sie zu Boden. Er drehte seinen Stiefel auf ihr hin- und her.

“Nein, bist du nicht”, brummte er und schüttelte den Kopf. “Aber was soll’s. Es tut mir Leid, Vherendie. Ich wünschte, ich könnte dir irgendwie helfen.”

Sie verdrehte ihre Augen und ging zur Straße. Sie erinnerte sich an den Bahnhof und die vielen Wege, die zu ihm führten – es sollte nicht lange dauern. Doch ihre Beine taten weh, und ihre Füße juckten und scheuerten in den Stiefeln. Schweiß rannte über ihren Rücken, und sie krempelte die Ärmel an ihrem Hemd nach oben. Die Luft flog nun deutlich wärmer über ihre Arme als noch vor einer Stunde. Anders kannte sie es von Tharamant nicht.

Und doch ärgerte es sie. Sie blieb stehen, riss den Rucksack von ihren Schultern und warf ihn auf den Boden. Dann griff sie an ihren Rücken, zog am Hemd und wedelte neue Luft zwischen Haut und Stoff.

“Soll’ ich ihn tragen?”, fragte Vedian hinter ihr.

“Es macht keinen Sinn”, zischte Vherendie und ließ ihr Hemd los. Dann drehte sie sich zu ihm um. “Warum haben die beiden das getan? Sie können doch nicht einfach aufgeben. Sie haben nie aufgegeben! Bei allem, was sie erlebt haben!”

Vedian schwieg, und Vherendie lief ein paar Schritte auf- und ab. Dann lauschte sie in die Stille der Ruinen hinein und sah sich immer wieder um. Aus der Ferne drangen Gewehr- und Kanonenschüsse, doch sie waren weit, weit weg. Die Ruhe der toten Stadt zog wie der Wind über die feinen, kleinen Haare, die beinahe unsichtbar auf ihren Armen wurzelten.

“Warum denke ich jetzt über Geschichte nach”, murmelte sie und ballte ihre Fäuste. “Warum will ich nicht verstehen, dass meine Eltern nicht mehr da sind. Was war los mit den beiden.”

Mit kleinen Augen blickte sie von einem Ende der Straße zum anderen, zu Vedian, auf einen zerbrochenen Gartenzaun, auf eine zerschmetterte Tür und auf ein Haus, dessen Ecke wie eine Lawine aus den Wänden gebrochen war. Ziegel, Putz und Dachschindeln flossen wie der Arm eines grauroten Gletschers durch den Garten und griffen nach den Wurzeln eines Zitronenbaumes, der all seine Früchte verloren hatte.

Sie wischte neue Tränen aus ihrem Gesicht und sah in ihre Hand. Dreckige Schweiß- und Tränenpfützen glänzten im Sonnenlicht.

“Die können doch nicht beim ersten Anflug von Gefahr einfach aufgeben, Vedian. Sie sind so mutig gewesen, immer schon.”

Vedian nickte ihr zu und sah zur Seite, während Vherendie sich auf den Fußweg am Rand der Straße setzte. Die flachen Absätze ihrer Stiefel passten in die Rinne vor dem Bordstein, die zu einem schweren, dunklen Gitter führte; wenn es in Tharamant regnete, dann floss das Wasser vom Straßenpflaster über diese Rinnen in die Kanalisation.

*Wenn* es regnete.

Leise stieg der Wind durch ihre Haare und spülte ein paar Strähnen vor ihre Augen. Vherendie sah nur einen Schatten, als Vedian sich neben sie setzte und seine Hand auf ihre Schulter legte. Sie spürte die Wärme seiner dünnen Finger durch den Stoff ihres Hemdes, und sie glaubte, den Puls zu spüren, der durch seine Adern schlug.

“Ich verstehe es nicht”, sagte sie und atmete tief durch. “Zivilisationen kommen und gehen, Reiche steigen auf und wieder ab. Was aus den Menschen wird, ist nicht interessant. Sie sind nicht interessant, du bist nicht interessant, ich bin nicht interessant. So steht es in den Geschichtsbüchern – tausend, zehntausend, hunderttausend Menschen sterben bei dem Angriff. Das war’s. Ihr Schmerz ist nicht objektiv und damit viel zu groß und zu vielfältig, um auf eine kleine Seite in der großen Geschichte des Kontinents Alâon zu passen. Und wenn wir weiterdenken, dann wird es irgendwann in der Geschichte der Welt stehen: 1387: Tharamant fällt. Ein einzelner Satz. Und niemand weiß von meinen Eltern, oder von dir, oder von mir. Niemand wird je erfahren, was…”

Sie hielt inne und nahm ihre Brille ab. Mit dem Rücken ihrer Hand wischte sie durch ihre Augen, während sie einen Schwall Luft durch ihre verschleimte Nase zu ziehen versuchte.

“Niemand wird je erfahren”, fuhr sie fort, “wieso meine Eltern sich für den Schlaf entschieden haben. Warum sie nicht aufgestanden sind, um die Stadt zu verlassen, oder wenigstens, um sich zu wehren.”

Sie fasste an ihren Hals und fuhr mit den Fingern an der dünnen Kette entlang, bis sie den Jadefalken zwischen ihren Fingerkuppen hielt. Seine Flügel lagen eng an seinem Körper, und er sah stolz in die Ferne. Doch in diesem Moment wusste Vherendie nicht mehr, ob sie unter ihren Fingern fühlte, in welche Richtung der Falke sah, oder ob sie sich lediglich an sein Bild erinnerte.

“Und das Schlimmste ist”, murmelte sie, “dass *ich* es nie erfahren werde.”

Plötzlich streichelte Vedian mit seiner Hand über ihren Rücken.

“Pass’ auf, Vherendie”, sagte er. Sie hob den Kopf und sah durch den Tränenschleier in seine Augen.

“Ich erzähle dir jetzt etwas, das mich verfolgt, seit ich denken kann”, sprach er. “Denn seit ich denken kann, habe ich ein Bild in meinem Kopf, das immer wieder auftaucht, wenn ich die Augen schließe, oder, in den letzten Jahren, wenn ich an dich denke. Hör’ zu, denn… Denn das ist sehr wichtig für mich: Graue Wolken schweben über einer dunklen, zerfurchten Klippe, an der die Wellen fressen; und der Wind vom Meer lässt die Grashalme tanzen, die dicht auf ihrer Spitze wachsen. Zwischen ihnen stehen zwei graue, alte Menschen: In diesem Bild sind es Mann und Frau, die aus wachen Augen dem Wind bis zum Horizont entgegensehen. Ihre langen, schwarzen Mäntel erwarten den Sturm; einen wütenden Sturm, der in weiter Ferne über den Wellen grollt und das Land sucht, und in den Falten und Narben ihrer Gesichter kannst du erkennen, was die beiden Menschen schon gesehen haben; wie weit sie reisten, welche Wunder sie sahen, und welche Schrecken sie erfuhren, nicht nur in ihrer Vergangenheit, sondern auch in ihrer Zukunft. Sie haben in den Abgrund gesehen. Sie haben in den Abgrund gesehen und erkannt, was am Ende ihrer Reise stehen wird.”

Vherendie rieb die Tränen aus ihren Augen und setzte ihre Brille wieder auf.

“Und trotzdem”, sprach Vedian und sah zur Stadt hinunter, “trotz allem, was sie sehen – den Sturm, und alles, was danach kommen wird, trotz all dem sehen sie dem Ende entgegen und fürchten sich nicht, und ich begreife langsam, warum.”

Er stand auf und sah sich um, dann blickte er in ihre Augen.

“Vielleicht wirst auch du das eines Tages sehen.”

Sie nickte und schloss die Augen. Ein paar Sekunden lauschte sie dem Wind.

“So wie man uns schuf, alleine zu reisen, niemals zurückzukehren, wie ungerecht das doch ist”, murmelte sie schließlich. Als sich neue Tränen durch ihre geschlossenen Lider quetschen wollten, biss sie die Zähne zusammen und versuchte, ihrem eigenen Atem zu lauschen.

“Ja, richtig. Die Freikünstler, ja, die haben das gesungen”, antwortete Vedian nach einer Weile. “Damit hatten sie schon recht, aber auch mit: ‘Zeige mir, wie du wurdest, was du warst, wie du lerntest, wer du bist.’ Was geschehen ist, ist geschehen, Vherendie. Wir können nicht mehr zurück.”

“Ich weiß”, hauchte sie und öffnete die Augen. Sie fasste mit einem Finger unter das Brillenglas und rieb an der Stelle, an der das Auge die Nase traf. Dann sagte sie: “Lass’ uns gehen. Es wird Zeit, dass wir Tharamant verlassen.”

06: Xenogramm

Bit vergrub die Stirn in seiner Hand. Die schlaflose Nacht zehrte an ihm, und die Neuigkeiten des Tages ärgerten ihn. Er drehte sich um, ging zum Bildschirm und schaltete ihn wieder an. In der ersten Sekunde blendete ihn das blaue Licht, doch dann verschwamm es mit der ewigen Dämmerung, die im Zelt herrschte.

“Sofort, Eroberer”, sprach ein Soldat. “Bringe den Kollaborateur, den Aufklärer Skatt brachte. Skatt hat außerdem dreiundreißig neue Steine mitgebracht. Ich überbringe sie persönlich den Medizinern, weil er zurück ins Feld gegangen ist.”

Scarve tippte ein paar kleine Symbole am unteren Bildschirmrand an. Eine Vielzahl Informationen zu Skatt erschien auf dem Schirm – Herzrate, Position, Bewaffnung und Ausrüstung.

“Da scheint er auch gut aufgehoben zu sein”, sprach Bit, tippte auf den Bildschirm und drehte sich um. “Der Mann hat siebenundfünfzig Abschüsse zu verzeichnen. Das stoppt Cas zwar nicht, so lange er noch seine Reinkarnationskammern hat, aber es verlangsamt zumindest seinen Vormarsch.”

“Das hoffen wir alle”, sagte der Soldat. “Wenn ich so frei sprechen darf.”

“Sie dürfen. Teilen Sie die reinkarnierten Soldaten in zwei neue Trupps ein und befehlen Sie ihnen, sich am Ende der Straßen in den Stockwerken der Gebäude zu verschanzen, auf breiter Fläche, zu beiden Seiten. Sie sollen Raketenwerfer mitnehmen und auf Befehle warten.”

“Sie sollten in eineinhalb Stunden bereit sein.”

Der Soldat salutierte und verließ dann das Zelt. Bit und Temm sahen ihm hinterher. Dann ging Bit zum Kartentisch zurück und schaltete auch ihn wieder ein. Langsam füllte sich das Zelt mit dem künstlichen Licht, das von der Karte, den Symbolen und ihren Bewegungen ausging.

“Ta verloren, Drit verloren, Jed verloren”, murmelte Bit. “Nicht nur gute Soldaten, sondern auch gute Freunde. Von Drit und Jed lassen sich wenigstens noch die Speichersteine orten, der von Ta ist in den Flammen geschmolzen, als… Als der Reaktor seines Stahlschreiters explodierte. Eine Schande.”

Er schnaufte einmal, während auf der Karte ein paar der blauen Symbole in der Leere zwischen den Grundrissen der Stadt verschwanden.

“Wir gaben im Bürgerkrieg vor, das Taktieren zu lernen”, erklärte er. “Doch in Wirklichkeit inszenierte der Weltenmeister den ganzen Krieg, inklusive seiner Sieger und Verlierer. Es war ganz einfach: Lügen, Auslassungen und Ungenauigkeiten brachten uns und den Rest des Volkes wieder auf seine Seite, und sie vereinigten uns gegen einen Feind, der uns hoffnungslos unterlegen war.”

Temm nickte. Bit war sich nicht sicher, ob der junge Soldat dies alles verstand.

“Ich wollte Verluste unter uns und den Zivilisten vermeiden”, fuhr Bit fort. “Denn ich habe im Bürgerkrieg meine Frau und meinen alten Vater verloren. Der Sohn meiner ersten Frau schloss sich den… Den ‘Verrätern’ an und vollzog einen Anschlag, bei dem dreißig Menschen starben – nur fünf Speichersteine konnten wir retten, und seiner war nicht darunter. Nun ist Amik Ta tot, der Sohn meines Freundes Scellic Ta, der bei eben jenem Anschlag ums Leben kam.”

Temm blickte zu Boden und schwieg einen Moment lang, bevor er die Stimme hob.

“Wenn Sie mir die Frage erlauben”, sagte er, “warum sind Sie dann überhaupt in diesen Krieg gezogen?”

Bit sah vom Tisch auf und blickte Temm an.

“Weil ich keine andere Wahl habe”, sagte er. “Wenn ich mich geweigert hätte, dann hätte er mich als Verräter zu den Sklaven gebracht, und ein anderer Eroberer hätte meinen Platz genommen, und wer weiß, wie viele Menschen es dann erwischt hätte. Außerdem haben wir hier die Chance, außerhalb seines Einflussbereiches zu planen. Wir können dem Weltenmeister-“

Ein neuer Soldat trat ein. An seinem Helm saß ein Kratzer, an dem womöglich eine Kugel abgeprallt war.

“Eroberer Bit, wir haben den Kollaborateur”, rauschte es aus dem Helm. “Er bittet um ein Gespräch mit euch und behauptet, er könne den Scaruba helfen.”

“Ich weiß, soll hereinkommen”, befahl Bit. Als der Soldat das Zelt verließ, um den Gefangenen hineinzuholen, wandte er sich Temm zu. “Ich hasse Kollaborateure, weil sie ihre Prinzipien, ihre Heimat und ihren Ursprung verleugnen. Das Ausnutzen von Verrätern stellt kein probates taktisches Mittel dar, aber… Ich habe keine Wahl. Wollen wir sehen, was er anzubieten hat.”

Darauf hoben zwei Soldaten ihre schweren Stiefel in den Raum. In den Händen hielten sie die Arme eines alten Mannes, den sie an beiden Händen gefesselt hatten. Bit verkleinerte seine Augen und sah ihn an. Der Mann war schlank, versteckte aber anscheinend ein paar starke Muskeln unter den rauhen, grauschwarzen Lederplatten, die auf seiner Brust, dem Bauch und den Armen saßen. An seinem Gürtel schaukelten kleine, runde Lederbeutel und Stofftaschen, neben einer Scheide, in der ein Langdolch schlief. Das Gesicht des Mannes bestand fast nur aus Bartstoppeln und tiefen, müden Falten, doch die braunen Augen leuchteten, wie sie nur bei einem Menschen mit wachem Geist leuchten konnten.

Als der Mann sich umsah und die Stimme hebte, kratzte sie so rau und kratzig aus seiner Kehle, wie Bit es von einem alten Mann erwartet hatte.

“Ich danke für diese Audienz, Eroberer von Tharamant”, sprach er und versuchte, sich zu verbeugen, doch die Wachleute an seinen Armen verhinderten dies.

“Ich spreche”, entgegnete Bit.”Stehen Sie frei. Lasst ihn los, Männer.”

Die Soldaten nahmen ihre Hände von seinen Armen. Der Mann richtete sich zu seiner vollen Größe auf.

“Gut. Und nun reden Sie”, sagte Bit. “Sie haben fünf Minuten, dann steckt ihr Kopf auf einem Pfahl.”

Der Mann hielt seinen Blick. Er zuckte nicht, er schluckte nicht – kein Anzeichen von Furcht oder Eile durchfuhr ihn.

“Das reicht in der Tat”, sprach er. “Und am Ende meiner Ausführungen werden Sie noch mehr von mir wissen wollen. Darum möchte ich mich Ihnen zunächst vorstellen. Mein Name ist Nesfalador von Artasien, und ich bin ein Sammler von Artefakten. Und wie es der Zufall will, kreuzt sich mein Weg oft mit Relikten von mächtiger antiker Energie – Relikte, die geschaffen wurden, bevor der Mond seine Träne verlor, erzählt man sich. In ihnen schlummern Kräfte, die, wie man sagt, am richtigen Ort den Lauf der Geschichte ändern können.”

“Blödsinn”, brummte Bit. “Der Weltenmeister wüsste von diesen Relikten. WIR wüssten von diesen Relikten. Wenn es irgendetwas mit mächtiger Energie auf dieser Welt gibt, dann läuft der Speichel des Weltenmeisters nicht weit entfernt.”

Die Soldaten im Raum sahen sich gegenseitig an, als ob sie nicht glauben konnten, dass *ihr* Befehlshaber gerade *seinen* Befehlshaber beleidigt hatte.

“Sie wissen bei Weitem nicht alles, mit Verlaub”, erwiderte Nesfalador. “Und den Beweis dafür trage ich in meinem Rucksack. Und wie ich überall in der Stadt gesehen habe, können Sie diesen Beweis brauchen, um die andere Armee – ihren Konkurrenten, oder wen auch immer, da will ich mich nicht einmischen – zu besiegen.”

Bit hob seine Hand an seine Stirn und schloss die Augen.

“Ich bin viel zu müde für diesen Unsinn”, sagte er. “Spießt ihn auf, dann macht weiter.”

Als die Soldaten nach seinen Armen griffen, sah Nesfalador sich erschrocken um. Seine Augen weiteten sich.

“Nein, nein, nein!”, rief er. “Warten Sie! Ich bin noch nicht fertig! Ich kann Ihnen helfen!”

Da war sie, die Regung, auf die Bit gewartet hatte. Er winkte die Soldaten zur Seite und trat auf Nesfalador zu.

“Was?”, zischte er. “Was können Sie mir bieten? In einem Satz?”

Nesfalador zitterte und sah zu Boden. Er atmete tief ein und schien nach Wörtern zu suchen. Dann sah er auf und sagte ein einziges Wort, mit fester Stimme und starrem Blick, und er grinste dabei:

“Xenogramm.”

Bit trat einen Schritt zurück und hob eine Augenbraue. Er sah die anderen Soldaten an, die vor dem alten Mann zurückwichen, und in diesem Moment wirkte es, als ob mehr Licht in den Raum drang, als die Zeltplanen erlaubten.

“Ausgerechnet Sie haben eins? Das ist schwer zu glauben”, entgegnete Bit.

“Alle Inschriften sind eindeutig”, lallte Nesfalador. “Die alten Sprachen nennen es eine ‘fremde Botschaft’, ein ‘fremdes Zeichen’. In der Geschichte von Alâon gab es nur wenige von ihnen – und immer haben sie große Ereignisse in andere Bahnen gelenkt.”

“Zufälle”, sprach Bit und ging zum Kartentisch, um den Drei-und Vierecken zuzusehen, die auf ihm tanzten. “Nichts als Zufälle, Legenden, Übertreibungen.”

“Ich glaube da an etwas anderes”, erwiderte Nesfalador. “Ich glaube, dass diese Artefakte immer dann auftauchen, wenn die Geschichte es braucht.”

Bit verdrehte die Augen.

“Die Geschichte ‘braucht’ nichts”, zischte er.

Nesfalador lächelte.

“Aber die Menschen, die Geschichte schreiben”, sagte er, und Bit verspürte den Wunsch, dem Fremden seine Faust ins alte, selbstgefällige Gesicht zu rammen.

“Lassen Sie mich erklären”, fuhr Nesfalador fort. “Ich würde es Ihnen gerne zeigen, aber… Mir sind die Hände gebunden.”

“Sehr witzig”, knurrte Bit und ballte seine Faust.

“Verzeihung. Aber ich sehe, was Sie hier tun”, sprach Nesfalador. Bit glaubte, echte Demut in seiner Stimme zu hören; seine Faust lockerte er trotzdem nicht. “Ich habe Ihre Truppen beobachtet und gesehen, dass es Ihnen nicht um Genozid geht. Aber ich habe auch Soldaten mit einem anderen Abzeichen gesehen, Soldaten, die rücksichtslos morden und schlachten. Daraus habe ich geschlossen, dass Sie, Eroberer, größeres Unheil verhindern wollen, und so möchte ich es auch.”

Während Nesfalador den Kopf senkte, blickte Bit auf den Kartentisch, auf dem weitere seiner blauen Symbole am Stadtrand verschwanden. Dann sah er auf, ging zu Nesfalador und hielt einem der Soldaten seine Hand hin, woraufhin ihm der Soldat die Schlüssel zu Nesfaladors Fesseln reichte. Bit schloss die Fesseln auf, diese fielen klirrend zu Boden, und Nesfalador rieb sich die Handgelenke.

“Nutzen Sie das nicht aus”, zischte Bit.

“Bestimmt nicht”, sprach Nesfalador und lächelte. “Ich hab’ doch nur ‘nen Dolch dabei. Das wäre dumm, wenn ich damit auf fünf bewaffnete Männer losgehen würde.”

Nesfalador beugte sich auf den Boden, nahm seinen Rucksack vom Rücken und wühlte in ihm herum, während drei der Soldaten ihre Gewehre hoben und auf ihn richteten.

“Bei Andalor, beruhigt euch”, stöhnte Nesfalador und wühlte. Bit verkleinerte seine Augen und fragte sich, wie weise es war, das Schicksal seiner Armee in die Hände eines Fremden zu legen, der von wirren Dingen erzählte.

“Da haben wir’s ja”, raunte Nesfalador. Zwischen seinen Fingern hielt er eine kleine, fünfeckige Scheibe in die Luft. “Dies ist ein Schlüssel, sagen die Schriften.”

“Das sieht nicht wie ein Schlüssel aus”, entgegnete Bit.

“Und der Ozean ist nicht blau”, antwortete Nesfalador. “Er spiegelt lediglich die Farbe des Himmels. Die Dinge sind nicht immer das, was sie scheinen, und die Schriften sagen, dass sich die Wächter von Tharamant mit diesem Schlüssel aus ihrem Gefängnis befreien lassen. Keine Ahnung, wer das sein soll – aber es ist besser als nichts, oder?”

“Wie lässt sich das Artefakt aktivieren?”

Nesfalador steckte die Scheibe zurück in seinen Rucksack und kratzte sich am Kopf.

“Ich muss es in der Mitte des Rathausplatzes aufbauen”, sagte er. Bit sah ihn kurz an und blickte dann nach draußen, bevor er einen Blick auf den Kartentisch warf. Neue rote Kästen und Dreiecke näherten sich dem Stadtzentrum.

Nach einer Weile schüttelte Bit den Kopf.

“Dann befreien Sie die Wächter”, sprach er und rieb seine müden Augen. “Aber sobald etwas darauf hindeutet, dass Sie ein faules Spiel spielen, lasse ich sie auf der Stelle erschießen.”

Nesfalador nickte und grinste die Soldaten zu beiden Seiten an.

“Sehr schön. Geh’n wir jetzt ‘raus?”

08: Beute

Vherendie schlurfte über die Straße wie ein Verdurstender durch den Wüstensand. Die Sonne über Tharamant brannte auf ihren Kopf und die Schultern herab, und je näher sie dem Bahnhof kam, desto mehr Kälte verlor der Wind auf dem Weg zu ihr. Hinter ihr ächzte Vedian, und jeder seiner Schritte klang in ihren Ohren wie ein Hammer, der auf den Boden schlägt; und die tote Stadt trug den Marsch und die Kämpfe weit entfernter Truppen zu ihr, doch sie fanden in einer Welt statt, die Vherendie gerade verließ.

In diesem Teil der Stadt hatte das Feuer nur wenige Wände eingerissen. Trotzdem schluckte Vherendie, als sie von einer Kreuzung in die nächste Straße trat. Auf den Pflastersteinen sah sie grelle, bunte Kleiderbündel, denen noch nicht einmal der Staub die Farbe nehmen konnte; und dann erkannte sie, dass in den Kleidern tote Tharamantiner steckten. Gefärbte Haare und die Fetzen teurer Kleider ruhten wie kleine, bunte Teppiche auf der Straße und den Fußwegen. Weite, leere Augen starrten aus dreckigen Gesichtern in den Himmel, und als Vherendie näher kam, konnte sie dunkelrote Löcher in den Stoffen sehen, die an den Leichen klebten.

Sie wollte die Augen schließen, hatte aber zu viel Angst, mit ihrem Stiefel auf eine Hand, einen Bauch oder einen Kopf zu steigen. Vorsichtig hob sie ihren Fuß von einer freien Stelle zur nächsten und fürchtete, mit jedem Schritt einen Teil ihres Atems zu verlieren. Die Gesichter auf dem Boden verschwammen vor ihren Augen, und schon bald sah sie nur noch blasse Flecken zwischen bunten, trockenen Pfützen, und als sie merkte, wie sie die Geschichten der Toten aus ihrem Kopf verdrängen wollte, griff eine kalte Hand nach ihrem Herzen.

*Was geschehen ist, ist geschehen*. Das hatte Vedian gesagt.

*Doch es ist nicht vergessen*, dachte Vherendie. Sie biss die Zähne zusammen und sah zu Vedian, der mit langen Beinen an den Leichen vorbeistieg.

*Nicht vergessen*, dachte sie noch einmal.

Sie atmete tief ein und ging weiter. Am Ende der Straße kam sie an einem umgestürzten Straßenbahnwagen vorbei, aus dessen Knickgelenken abgewetzte Stahlseilreste wie zerissene Muskeln baumelten. Hinter dem Wagen erklomm sie einen Berg aus Dreck, taumelte durch einen Krater und stieg über Trümmer, die ein Feuerball aus einem Haus gerissen hatte. Ständig sah sie sich um und lauschte ihren eigenen, viel zu lauten Schritten.

Als sie schließlich an eine Kreuzung kam, blieb sie stehen und drehte sich zu Vedian um. Mit ihrem Ärmel wischte sie den Schweiß von ihrer Stirn, bevor sie sich am Kopf kratzte und mit den Fingern Luft durch ihre Haare wedelte.

“Geradeaus”, sagte Vedian.

“Ich weiß”, murmelte sie. “Aber hörst du das nicht auch?”

Vedian blieb stehen, und zusammen lauschten sie dem Wind, der durch die Stadt rauschte. Schüsse hallten aus dem Inneren Tharamants, doch die Schritte, die über das Pflaster trampelten, schallten aus nächster Nähe. Vedian riss die Augen auf und starrte Vherendie an.

“Wir müssen runter von der Straße. Komm’ mit!”, flüsterte sie.

Er nickte. Zusammen schlichen sie über die Kreuzung zum Fußweg und von dort durch das weite Tor einer Kaufhaushalle, dessen dunkelbraune Flügeltüren nur noch lose in den Angeln hingen. Im Inneren fielen lange Sonnenstrahlen aus den Glasbausteinen, die in den glatten Wänden steckten, und von der gebogenen Decke hingen drei Kronleuchter hinab. Der letzte von ihnen zitterte im Luftzug, der durch offene Fenster und Türen wehte, weil er nur noch schräg an einer einzigen, schweren Eisenkette hing, und die Kristallsteine auf seinem Goldgerüst klirrten im Wind.

An den Seiten der Halle führten schwere Türen aus dunklem Holz in die einzelnen Geschäfte, in denen die Tharamantiner ihr Geld lassen konnten. Vherendie sah riesige Tragetaschen, Gehstöcke und spitze, dünne Schuhe in den Regalen. Hinter zerbrochenen Schaufenstern lachten ihr blasse, hohle Puppen unter übergroßen Hüten entgegen, und von ihren Schultern hingen Kleider herab, die in den Farben von Kirschblüten und Rosen leuchteten.

Sie ging ein paar Schritte über den glatten Marmorboden, auf dem sich schwarze und weiße Quadrate abwechselten. Zeitungsblätter, zerrissene Bücher und teure Kleider lagen wie Laub auf ihm, und eine kleine, dürre Staubwolke sprang bei jedem Schritt in die Luft. Am Ende der Halle sah sie zwei gewundene, breite Treppen, die zur zweiten Ebene der Halle führten. Auf den Stufen lag ein roter Teppich mit Goldrändern.

“Wir gehen da hoch und verstecken uns in einem der Geschäfte”, flüsterte Vherendie.

“Genau”, brummte Vedian. “Wir sollten uns Kleider anziehen und neben die Puppen ins Schaufenster stellen. Ich wollte schon immer ein echtes Schneiderfels tragen.”

Vherendie zog eine Augenbraue hoch und sah ihn an. Sein Blick blieb starr, aber als er seine Mundwinkel sachte hob, lächelte sie, bevor sie nach vorne blickte und zur Treppe lief.

Mit schweren Schritten trat sie auf den Teppich und sprang die flachen Stufen hinauf, stieg über eine gefallene Topfpalme und rannte an ein paar staubigen Steinbrocken vorbei, die von der Decke gefallen waren. Die Sonne schien ihr weich aus einem undurchsichtigen Glasfenster entgegen, als sie zu weiteren Türen, Fenstern und Schaukästen kam. Sie rüttelte an jedem Knauf und jeder Klinke, bis sie genug hatte und sich mit ihrem ganzen Gewicht gegen eine Tür warf, immer und immer wieder. Ihr Herz klopfte und ihre Schulter brannte.

Plötzlich gab die Tür nach, und Vherendie fiel in einen dunklen Raum hinein. Nach ein paar kurzen Atemzügen sahen ihre Augen, in was für einem Raum sie stand: Landkarten und Gemälde hingen in bunten Rahmen an der Wand, und in der Mitte gähnte eine monströse Vitrine, in der Glas- und Tonvasen auf Käufer warteten, die niemals kommen sollten.

“Gemälde und Vasen”, stöhnte Vedian. “Was für eine Nische.”

Vherendie ging auf die andere Seite der Vitrine, setzte sich hin und drückte den Rücken gegen den Marmorsockel, auf dem der Glaskasten stand. Vedian setzte sich neben sie. Ihre Schultern pressten sich aneinander, sodass Vherendie nicht mehr spüren konnte, wessen Haut stärker schwitzte. Ihr Herz schlug, und Vedian keuchte.

Sie warteten in der Stille, für Sekunden, vielleicht auch für Minuten. Vherendie wusste es nicht, aber sie fühlte, wie ihr Herz immer stärker schlug. Sie schloss die Augen und zählte leise zwischen ihren Atemzügen. Als das nicht funktionierte, griff sie nach Vedians Hand, und als ihr das auch nicht half, öffnete sie ihre Augen wieder und suchte einen Punkt an der Wand, an dem sie ihren Blick fixieren konnte.

Sie fand ihn nicht da, wo sie ihn erwartete. Zwischen den Gold- und Holzrahmen an der Wand sah Vherendie immer wieder die gleichen Wiesen, Täler, Wälder und Berge. Doch unter ihnen hing ein Bild, auf dem eine riesige, türkise Statue in weiten Tüchern stand. Sie thronte auf einem Sockel in der Mitte der flachen See, und hinter ihr hoben sich gläserne Türme in den Himmel. Auf ihrem Kopf saß eine gezackte Krone, und mit ihrem Arm hob die Frau eine Fackel in die Höhe. Vherendie glaubte, in eine längst vergangene Welt zu blicken, in der das Glück auf jeden wartete, der die Frau und die Stadt aus Glas in ihrem Rücken passierte, und für einen Moment fragte sie sich, wer dieses Bild gemalt hatte, und zu welcher Zeit. In ihrem Kopf flackerten die Bilder, Formen und Strukturen der alâonischen Kunstgeschichte, doch sie fand keine Epoche und keine Schule, der sie das Bild zuordnen konnte – es fiel ihr schwer, sich an eine Zeit zu erinnern, in der riesige, gläserne Türme in den Himmel wuchsen.

Plötzlich klangen Schritte und Stimmen aus der Halle unter ihr. Vherendie spürte nur wenig durch die Wände dringen. Doch als sie hörte, wie die Soldaten sprachen, drückte sie Vedians Hand zusammen und spürte, wie das Herz in ihrer Brust tobte. Sie erschrak, blickte über ihre Schulter und richtete sich auf, sodass sie über die Vitrine sehen konnte.

“Wir haben die Tür offen gelassen!”, flüsterte sie und sah Vedian mit weiten Augen an. Dann setzte sie sich wieder hin und drückte sich an seine Schulter. Er legte den Arm um sie, und als sie ihre Hand auf seine Brust legte, spürte sie, dass sein Herz noch viel schneller als ihres klopfte.

Stimmen flogen durch die Halle und fanden ins Versteck der beiden. Sie klangen verzerrt und blechern, und der Hall machte es nur schwerer, ihre Worte zu verstehen.

“…Nur…Sekunden…”

“…Müsste hier sein… Direkt hier…”

“…Tür auf…”

Vherendie zuckte zusammen. Holz krachte, und es klang wie eine Axt, die einen Baum fällt, als die Soldaten im Geschäft unter ihnen eine Tür auftraten und ihre schweren Stiefel in den Gang schleiften.

“…bewegt. Muss bei Personen sein…”

“…Daten… Korrekt. Muss genau hier sein…”

Vherendie zitterte und sah sich um. Hier musste doch etwas liegen, mit dem sie sich verteidigen konnte. Ihr fiel das Brecheisen ein, mit dem sie einen der Soldaten erschlagen hatte. Warum sie es nicht mitgenommen hatte, wusste sie nicht mehr.

“…wartet… Zweiter Stock…”

Schüsse donnerten unter ihnen. Splitter sprangen wie ein Schwarm dicker Käfer aus dem Holzboden. Vherendie schrie, neben ihr schrie Vedian, und unter ihr schrie jemand anderes, und dann verhallten die Schüsse. Putz fiel aus der Decke und rieselte in ihre Haare hinein.

“Was ist dein Problem?”, brüllte eine der blechernen Stimmen unter ihnen. “Spar’ deine verdammten Kugeln für Cas!”

Vherendie schloss ihre Augen. Sie hörte Vedians schweren Atem und die Stiefel, die unter ihnen über den Marmorboden rannten. Jeder Schritt klickte und klackte wie das Schloss einer schweren Tür, bis sie den Teppich an der Treppe erreichten.

Während die Schritte näherkamen, drückte Vherendie sich näher an Vedian. Sie spürte Nässe an ihrem Bauch, und als sie hinunterblickte, sah sie, dass Blut aus einer Wunde an seinem Bauch trat. Sie erschrak und blickte ihn an, am Riss in ihrer Brille vorbei und an dem Schleier, der sich über ihre Augen legte.

“Er muss hier oben sein”, rief eine der Stimmen, und jedes Wort klang näher, als es Vherendie lieb war. Sie starrte in Vedians Augen und presste ihre Hand an seine Brust.

Dann stampften schwere Schritte in den Raum, und ein heller Lichtstrahl schien in die Dunkelheit, in der sich Vherendie und Vedian versteckt hatten. Sie blickte auf und kniff die Augen zusammen. Ein gesichtsloser Soldat stand über ihnen. An seinem Gewehr saß eine Lampe, die an einen blassen Kreis an die Wand warf; Vherendie konnte nur wenig von seiner Rüstung erkennen, nicht viel mehr als einen Schatten.

“Daten korrekt. Muss hier sein”, rauschte eine Stimme aus dem Helm des Soldaten. “Zwei Zivilisten hier. Muss bei ihnen sein.”

Dann senkte er seine Waffe.

“Ihr habt etwas, das euch nicht gehört”, zischte er. “Es ist ein Stein. Mein Cousin.”

Vherendie runzelte die Stirn.

“Rückt Ihr ihn selber heraus oder muss ich Euch erst erschießen?”

“Was…”, stammelte Vherendie, “Was meint Ihr damit? Was für ein Stein?”

Der Soldat drehte den Kopf zur Decke. Sein Helm verdeckte das ganze Gesicht, doch Vherendie konnte trotzdem sehen, wie die Ungeduld an ihm fraß.

“Verdammt, ich habe keine Zeit dazu”, sagte er. “Ihr habt einen Stein aufgenommen, aus der Rüstung eines toten Soldaten. Unserer Ortung nach ist es mein Cousin. Gebt’ mir den Stein, und ich lasse euch weiterziehen. Denn ich habe weitaus Wichtigeres zu tun.”

Vherendie nickte. Dann schluckte sie und starrte den Soldaten aus kleinen Augen an.

“Mein Freund ist verletzt”, sagte sie.

“Tut mir Leid für ihn”, antwortete der Soldat. “Aber dafür habe ich keine Zeit. Am Bahnhof gibt es eine Ansammlung an Zivilisten. Vielleicht habt Ihr da Glück, obwohl ihr euch keine Mühe geben solltet, einen Arzt in dem Getümmel zu finden. Ich will nur den Stein, und wenn Ihr ihn jetzt nicht herausgebt, dann nehme ich ihn mir.”

Er hob sein Gewehr und richtete Lauf und Licht direkt auf Vherendie. Sie hob ihre Hand, sah zur Seite, bewegte ihren Rücken von der Wand weg und öffnete ihren Rucksack. Dann sah sie den Soldaten an und griff mit ihrer zitternden Hand hinein, tatstete nach ihrer Flasche, dem Notizbuch, einigen Stiften und fand plötzlich den glatten, grauen Stein, den sie in der letzten Nacht aus der Rüstung eines Soldaten genommen hatte.

Langsam zog sie ihn aus dem Rucksack. Sie legte ihn auf ihre Handfläche und hob sie zum Soldaten hoch.

“Danke. Viel Glück”, sagte er. Dann nahm er den Stein, drehte sich um und verließ den Raum. Vherendie hörte, wie seine Stiefel über den Boden hämmerten, wie er etwas rief, das sie nicht verstand, und vor ihrem inneren Auge tauchte immer wieder der kalte, starre Lauf seines Gewehres auf. Sie roch den schwarzen Stahl, oder was auch immer das für ein Metall gewesen war, und der Schweiß auf ihrer Stirn erinnerte sie daran, dass sie mit einem anderen Ende gerechnet hatte.

Zitternd stand sie auf und wischte mit dem Handrücken über ihre Stirn. Die Wälder, Berge und Wiesen auf den Gemälden an der Wand lagen unter einer schwarzen Sonne, die niemals untergehen sollte, und der Schatten, der den Raum verdunkelte, schien ihr schwärzer als zuvor. Sie taumelte zur Tür und sah hinaus, bevor sie vorsichtig über das Geländer ins Erdgeschoss der Halle hineinsah. In der Leere unter ihr schob der Wind lose Zeitungsblätter über den Boden.

Hinter ihr stöhnte Vedian. Sie hörte, wie er aufstand, doch sie drehte sich nicht um. Sie hechtete zur nächsten Tür und rammte die Sohle ihres Stiefels gegen das schwere, dunkelbraune Holz. Die Tür zitterte und ratterte in ihrer Fassung. Staub flog bei jedem Tritt durch die Luft, und Vherendie trat und trat, bis sich die Haare aus ihrem Haarband lösten und durch den Schweiß auf ihrer Stirn fegten. Ihre Beine schmerzten und wogen mit jedem Tritt schwerer, und ihre Hände krampften sich zu kleinen Fäusten.

Ein Schrei sprang aus ihrer Kehle und irrte zwischen den Wänden der Halle umher, während ihr Stiefel die Tür aus dem Schloss brach. Vherendie keuchte und wischte dunkle, klebrige Strähnen aus ihrem Gesicht, dann lief sie in den Raum hinein, vorbei an bauchigen Flaschen aus dunkelbraunem Glas, die in schulterhohen Regalen standen. Durch ein breites Fenster an der Rückwand des Raumes schien helles Sonnenlicht, und es war hell, als ob kein Dach den Himmel aussperrte. An den Wänden hingen gläserne Vitrinen in dunklen Holzrahmen, gefüllt mit Flaschen, Amphoren und Schüsseln, die wie von Hand gefertigt aussahen, aber ohne Frage aus einer Fabrik in Tharamant oder Antodun stammten. Bunte Etiketten aus Papier klebten auf ihnen, und feine Linien schrieben warme Namen auf ihnen. Vherendie schnaufte. Das war Hausmedizin, und das Etikett sah aus, als hätte es die Großmutter geschrieben, während in Wirklichkeit eine Maschine das Gebräu abgefüllt und das Gefäß verkorkt hatte. Doch das spielte jetzt keine Rolle mehr.

Ihre Augen huschten von der Vitrine zur Theke, unter dessen Glasplatte verschiedene Kästen standen, gefüllt mit bunten Pillen, die Vherendie nicht kannte; und über ihnen standen Zahnbürsten mit feinen Borsten. Rechts davon lehnte ein Regal an der Wand, auf dem silberne Pinzetten standen; mit diesen zupften die Frauen und Männer Tharamants Haare, die nicht in ihr Körperbild passten.

Schließlich fand ihr Blick das, was sie suchte: Bandagen, Tücher, Bänder. Alles, was sie brauchte. Eilig nahm sie den Rucksack von ihren Schultern, öffnete ihn und schleuderte Verbandrollen aus dem Regal hinein. Sie wusste nicht, wie viele sie brauchen würde – nicht nur für Vedian, sondern auch für ihre weitere Reise. Neben dem Regal fand sie ein paar Flaschen Desinfektionsalkohol, von denen sie eine nahm. Dabei stopfte sie ein paar Rollen Verbandmaterial zwischen ihre Trink- und die Alkoholflasche, damit sie sich nicht gegenseitig zerschlugen, wenn sie das nächste Mal rannte. Bald, dachte sie, würde sie nach einem Trinkschlauch suchen müssen.

Vherendie schloss ihren Rucksack und hängte den Gurt über eine ihrer Schultern. Sie schritt an den Regalen vorbei und ging zur Tür, doch plötzlich fiel ihr Blick auf ein Paket auf einem Regalbrett, das die Aufschrift “Etoma-Tranrapedin Stark” trug.

Sie zögerte, denn sie kannte diesen Schriftzug, und als sie sich an den Morgen erinnerte, fiel es ihr wieder ein: Dies war eins der Medikamente, die Feyhen benötigte, der Arzt, von dem sie sich vor wenigen Stunden verabschiedet hatten. Noch einmal nahm sie ihren Rucksack vom Rücken, grabschte zwei Pakete des Medikaments und suchte die anderen beiden, auch wenn sie es schwer fand, sich an die genauen Namen zu erinnern. Irgendwann steckte sie mehr ein, als sie erwartet hatte; mehr, als sie oder Feyhen brauchen könnten.

“Was… Was machst du da?”, sprach jemand. Seine Stimme klang müde und erschöpft.

Vherendie erschrak und sah zur Tür. Mit weiten Augen starrte sie Vedian an, der im Türrahmen lehnte und seine blutige Hand auf seinen Bauch drückte.

“Was machst *du* da!”, zischte sie und eilte in großen Schritten auf ihn zu. Sie nahm seine Hand bei Seite und starrte auf das blutige Hemd. Ihre Hände zitterten, als sie den Hemdzipfel nach oben zog und einen Blick auf die Wunde warf. Sie zog sich wie ein langer, roter Schnitt über den Bauch.

“Du bist einfach aufgesprungen”, sagte er und hustete. “Ich wusste nicht, was du vorhast.”

“Und du hattest Glück, dass du auf der Seite gelegen hast. Auf deinem Rücken hätte das anders ausgesehen”, murmelte sie. Dann drehte sie sich von ihm weg und öffnete eine Flasche Desinfektionsalkohol. “Halt’ still. Ich will nicht einen einzigen Ton hören.”

Mit klopfendem Herzen träufelte sie ein paar stinkende Tropfen auf eines der weißen Tücher, das sie aus dem Regal nahm. Nicht zu wenig. Sie trat an Vedian heran, der noch immer an der Tür lehnte, zog sein Hemd nach oben und drückte das Tuch auf die Wunde. Er schrie auf.

“Ich weiß”, sagte sie, ohne ihre Augen von dem Tuch zu lassen, denn Vedian zuckte jedes Mal, wenn sie die Wunde berührte. “Das muss tierisch brennen. Und ich habe keine Ahnung, ob ich das richtig mache.”

Vorsichtig wischte sie mit dem Tuch an den Rändern der Wunde entlang. Es kam ihr vor, als ob die Kugel auf ihrem Weg einen langen, aber flachen Graben durch sein Fettgewebe gezogen hätte. Im gleichen Moment ärgerte sie sich, dass sie nie etwas über den Körper, Medizin oder die Versorgung von Wunden gelernt hatte.

*Wozu auch?*

“Sieh’ es von der positiven Seite. Wenn du dünner wärest und die Kugel dich getroffen hätte, könnte ich jetzt nichts mehr für dich tun. Nun halt’ dein Hemd nach oben, ich will dir einen Verband anlegen.”

Vherendie warf das Tuch auf den Boden und rollte ein weißes, langes Band von einer der breiteren Verbandsrollen ab. Ihre Finger fassten die weiche Spitze und drückten sie an die Seite der Wunde. Dann wickelte sie den Verband um seinen Bauch und Rücken herum.

“Ich muss ihn festziehen, oder?”, fragte sie, während sie ihre Arme um ihn schlang, um das Band hinter seinem Rücken von einer in die nächste Hand zu reichen.

“Ja, glaube ich”, sprach er. Vherendie wickelte und wickelte, dann band sie einen Knoten in den Verband. Sie rückte ihre Brille zurecht und wischte den Schweiß von ihrer Stirn, während er sein Hemd wieder fallen ließ und es an seinen Seiten zurecht zog. Vherendie sah in den hell ausgeleuchteten Raum hinein und überlegte, schloss die Augen und drehte sich zur Tür um. Vedian stand nicht mehr im Türrahmen; stattdessen lehnte er am Geländer und blickte in die Halle hinab.

Mit leisen Schritten trat Vherendie an seine Seite.

“Brauchst du einen Moment?”

Vedian sah sie aus weiten Augen an, dann drehte er sich wieder zur Halle und stützte beide Unterarme auf dem Geländer ab.

“Du etwa nicht?”, stöhnte er. “Er hätte uns töten können. Ich bin angeschossen worden. Deine Eltern haben sich… Deine Eltern haben einen anderen Weg genommen. Wieso? Warum passieren diese Dinge? Ich verstehe die Welt nicht mehr.”

Vherendie nahm ihre Brille ab und wischte ein paar Staubkörner mit dem unteren Rand ihres Hemdes zur Seite.

“*Was geschehen ist, ist geschehen*”, sagte sie, ohne von ihrer Brille aufzusehen. “Schön, dass wir endlich das Gleiche denken.”

Sie drehte sich von ihm weg und ging zur Treppe.

“Warte. Was hast du vor?”, rief Vedian. Seine Stimme hallte durch die leere Halle.

“Ich gehe zum Bahnhof”, sagte sie. Dann schwieg sie und stieg die Treppe hinab. Vedians folgte ihr mit schweren Schritten über die Treppenstufen.

“Ich weiß. Aber was hast du vor?”

“Ich brauche eine Waffe. Irgendwo muss hier ein Waffenhändler sein Lager haben-“

Seine Hand packte sie an ihrer Schulter. Sie fuhr herum.

“Spinnst du, Vherendie?”, sagte Vedian. “Der einzige Grund, warum wir noch am Leben sind, ist der, dass wir keine Waffen bei uns hatten! Wenn du auf die Soldaten geschossen hättest, wären wir jetzt tot!”

Sie sah in seine Augen und nickte.

“Ich weiß”, sagte sie. “Vertrau’ mir. Ich habe einen Plan… Glaube ich.”

09: Siegelbruch

“Also, ein wenig Vorgeschichte für Sie, Eroberer”, sprach Nesfalador, während Bit und die Soldaten ihn auf den Markplatz führten. Die Sonne blendete ihn, und in ihrem Licht konnte er immer wieder Gesichter erkennen, die mit kleinen Augen in seine Richtung sahen. Er atmete tief ein und sprach die Worte, die er immer und immer wieder geübt hatte.

“Ich bin gewandert – über zehn Jahre lang. Ich habe Bibliotheken und Archive besucht, weise Männer und gelehrte Frauen gesprochen. Ich habe alte Sprachen kennen gelernt, die man seit Jahrtausenden nicht mehr spricht, Schriftzeichen studiert und Legenden gelesen. Ich weiß, wovon ich rede. Ich wusste, dass eine Katastrophe diese Stadt heimsuchen wird – und ich suchte nach einem Mittel, um das zu verhindern. Und ich fand eins. Ich weiß, wovon ich rede.”

Nesfaladors Herz klopfte. Wohin er auch sein Auge warf, überall sah er nur die spitzen Läufe langer Gewehre, die Mündungen klobiger Pistolen, offene Raketenrohre und Waffen, die er nicht kannte. Er schluckte: Wenn der Eroberer seine Gunst ändern sollte, dann war es zu Ende mit ihm.

“Das Xenogramm selber”, erklärte er, während er seinen Blick wieder auf Bit richtete, “habe ich weit im Norden Efortems finden können, nahe einem Ort namens Stattend, aber es spielt auch keine Rolle, wo es genau war – es war das Grab eines Freikünstlers, erzählte man mir, aber ich fand etwas, das viel älter sein musste.”

Bit sah ihn aus kleinen Augen an, und drei der vier Soldaten, die ihn zur Mitte des Platzes begleiteten, richteten noch immer ihre Gewehre auf Nesfalador.

“Und Sie wissen vermutlich nicht, wer die Freikünstler waren”, fuhr Nesfalador fort. “Und darum will ich auch nicht mehr davon erzählen. Aber ich fand unter Stattend alte Ruinen, in denen lebende Bilder von den Wänden liefen, und sie zeigten mir Städte, in denen Türme aus Glas standen, und zu ihren Füßen zogen sich schwarze Straßen wie steinerne Flüsse-“

“Sie wollen die Stadt retten?”, fragte Bit. Er kniff die Augen zusammen, und die Sonne warf weißes Licht auf seine bleiche Stirn. Abseits seiner Augenbrauen konnte Nesfalador keine Haare auf seinem Kopf erkennen.

Sie kamen in der Mitte des Rathausplatzes an. Plötzlich spürte Nesfalador diesen Gedanken aus Kopf seinem Kopf, durch seine Brust und direkt in den Magen hinein rauschen. Es durfte jetzt nichts mehr schief gehen.

“Ich will ihre Menschen retten, ja”, bestätigte Nesfalador und nickte dem Eroberer zu. Die Mittagssonne tauchte den Rathausplatz in helles Licht, und obwohl Nesfalador wusste, dass Bit keine Zeit verlieren wollte, musste er über die Stadt hinab zum Meer blicken, hin zum schweigenden Felsen, der am fernen Horizont über den Wellen in die Wolken ragte.

“Der Götterkeil”, murmelte er. “Ich hätte nicht gedacht, dass man ihn von hier aus noch sehen kann.”

Dann kniete er sich auf den Boden, nahm seinen Rucksack vom Rücken und wühlte in ihm herum. Hinter sich spürte er, wie die Soldaten weiterhin auf ihn zielten, und sie standen viel näher an ihm, als ihm lieb war. Ein paar Schüsse fielen in der fernen Stadt, und Nesfalador fühlte, wie sich seine Nackenhaare aufstellten, denn auch der Donner klang sehr viel näher, als ihm lieb war.

“Die Teile des Artefakts sind hier drin”, erklärte er und kramte sie aus dem Rucksack heraus. “Vier weitere Waagschalen, fünfeckig. Ein Metallgestell, auf dem ich die Schalen aufhänge. Und fünf Murmeln.”

“Waagschalen?”, fragte Bit.

Zwei der Soldaten sahen sich an. Nesfalador glaubte, dass sie den Kopf schief legten, als ob sie an der geistigen Gesundheit des alten Mannes zweifelten. Er nahm es ihnen nicht übel – immerhin war er derjenige, der in einem Lager voller Soldaten mit Murmeln spielen wollte.

“Sie gehen am Besten”, befahl Bit den Wachen. “Beziehen Sie Posten, wie ich Ihnen befohlen habe. Rückzugspunkt ist am Hafen bei den Versorgungsschiffen. Wenn das hier nicht funktioniert – wovon ich ausgehe – dann müssen wir die Soldaten von Cas aufreiben, bevor wir sie zum Lager am Hafen locken.”

“He, sie müssen schon dran glauben”, brummte Nesfalador und kippte die Murmeln aus einem kleinen Lederbeutel in seine Hand. “Sonst kann das nicht funktionieren.”

Hinter ihm hörte er, wie sich die Soldaten mit Schritten entfernten, die schwerer klangen, als es ihre Statur erwarten ließ. Er stellte eine kleine Stange mit fünf Füßen auf und breitete ihre fünf dünnen Armen aus, an deren Enden er die glänzenden Waagschalen hängte. Sie zitterten nervös unter den Rhythmen, die Soldatenstiefel und Schreckenbeine in den Boden hämmerten.

“Ich habe keine Zeit für Witze”, knurrte Bit kalt und trat ein paar Schritte näher an die Waage mit den fünf Schalen heran. Nesfalador zog einen Stift aus dem unteren Teil der Stange heraus und legte ihn zur Seite. Die Schalen balancierten sich nun gegenseitig aus. Dann fiel ihm ein, dass er die Murmeln auch noch auf die Schalen legen musste, ohne einen der Arme zu weit nach unten zu senken. Er griff nach dem Stift und setzte ihn wieder ein. Die Waagschalen hielten nun still; Nesfalador nicht mehr. Er zitterte und spürte, wie ihm Blut und Hitze in den Kopf stiegen.

Er durfte keinen Fehler machen.

“Es erscheint mir suspekt, dass eine Waage diese Kraft besitzen kann”, sprach Bit, während Nesfalador die Murmeln aus seiner anderen Hand auf die Waagschalen verteilte.

“Nun”, antwortete Nesfalador, und er erschrak sich darüber, wie viel Unruhe in seiner eigenen Stimme lag. “Es ist eine besondere Waage – es ist die Waage der Kunst, der Leidenschaft und der Wahrheit. Die fünf Schalen stellen die fünf Grundsäulen der Alâonischen Kunsttheorie dar, mit deren Hilfe sich die fünf Siegel Tharamants öffnen lassen.”

Bit trat an ihn heran und sah herab.

“Was sind diese Siegel?”

“Ihr habt eure Zelte über einem stehen.”

Nesfalador deutete auf eine der riesigen, fünfeckigen Metallplatten, die im Boden ruhten. Aus seinem Blickwinkel konnte er nicht genau erkennen, was darauf eingraviert war, aber er vermutete, dass es ein Händedruck war. Eine der Kanten des Siegels schnitt sich mit der langen Wand eines Zeltes, in dem lange, flache Kisten standen. Nesfalador ahnte, was die Armee in ihnen transportierte: Es war Munition für die Raketenrohre, Sprengstoff. Eine dieser Kisten hatte er selber geplündert, als er sich durch die Stadt kämpfte.

“Die fünf Tugenden Tharamants sind zugleich die Siegel, die ihre Wächter beschützen. Mit der Waage lassen sich diese Schutztugenden zerstören”, erklärte er und stand auf. Die Murmeln lagen auf den einzelnen Schalen und rollten langsam in die Mitte.

Dann geschah nichts.

Er wusste nicht, was er falsch gemacht hatte. Der Wind wehte über die Schale hinweg, und die Murmeln zitterten, bevor sie zum Stillstand kamen.

“Die Schalen müssen alle den gleichen Abstand zu den Siegeln besitzen”, murmelte Nesfalador und biss seine Zähne zusammen. “Sonst funktioniert es nicht. Danach müssen die Murmeln auf die entsprechenden Schalen verteilt werden. Ich habe sie in verschiedenen Farben angemalt, weil ich befürchtete, die Verteilung zu vergessen.”

Er beugte sich wieder hinunter und prüfte alle Schalen und Murmeln. Er sah zu den Siegeln, hielt seinen Daumen in die Luft und sah über ihn hinweg, um den Abstand zur Waage abzuschätzen. Die Murmeln saßen wie in Sockeln in der Mitte der Waagschalen und rührten sich nicht, und das Lager auf dem Rathaus fuhr unbeirrt fort mit dem, was es tat. Nesfalador spürte, wie der Schweiß aus den Poren seiner Stirn rannte.

“Das… Das kann doch nicht sein”, stammelte er und sah in die kleinen Augen des Eroberers. “Ich habe es mir genau durchgelesen. Es muss hier stehen. Es muss so aufgebaut werden.”

Der Eroberer starrte ihn an und beugte sich schweigend zur Waage herab. Er hielt seine Finger an die Stange in der Mitte, fuhr mit zweien von ihnen an ihr herab und griff dann unterhalb der Arme zu. Er zog etwas hinaus, hob es in die Höhe und hielt Nesfalador den glänzenden Stift entgegen.

“Ich denke, dass Sie sich besser konzentrieren sollten, wenn es um ihr Leben geht”, sagte Bit und warf den Stift zur Seite. Er klirrte kurz und hell wie eine Triangel, als er auf den Boden traf. Nesfalador wischte mit dem Ärmel über seine Stirn und schnaufte wie ein Taucher, der aus den Wellen auftaucht. Er wollte etwas sagen, erkannte dann aber in seinem Augenwinkel, dass sich die Waage bewegte, und riss die Augen auf. Sein Herz klopfte. Langsam rollte eine Murmel über die Waagschale, die zur südlichen Metallplatte zeigte. Die Schale schwang nach unten, während die übrigen vier nach oben stiegen, und jeder der fünf Arme klickte wie ein Uhrwerk, das zwischen den Soldaten auf dem Rathausplatz kaum zu hören war. Nesfalador hörte es genau, und er musste grinsen. Im gleichen Moment sah er, wie die Soldaten an der südlichen Metallplatte ihre Arbeit unterbrachen und das Siegel anstarrten, denn es glühte von Sekunde zu Sekunde stärker. Bald leuchtete der Goldbarren, der in die Platte eingraviert war, wie in einem Schmelzofen.

“Licht zerschmilzt das Gold”, sprach Nesfalador zu Bit und hielt eine Hand an den Gürtel, an dem sein Dolch hing. “Soll heißen: Die Wahrheit triumphiert über den Reichtum. Was immer das auch heißen mag-“

“Hauptsache, es funktioniert”, knurrte Bit. Dann hob er die Stimme und drückte einen Knopf am Halsteil seiner Rüstung. Die Soldaten auf dem Platz drehten ihre Köpfe zu ihm, ratlose Gesichter blickten ihn an, einige setzten ihre Helme auf und unzählige Hände griffen nach ihren Gewehren.

“Nehmt Abstand von den Metallplatten im Boden”, befahl er mit lauter Stimme. “Wiederhole: Abstand nehmen von den Platten am Rathausplatz. Wir bekommen Unterstützung, wie es aussieht.”

Nesfalador grinste noch immer.

“Oh, das habe ich nie versprochen”, murmelte er leise. “Das Wort zerstört die Hoffnung. Der Klang macht den Mut zunichte, das Bild nimmt die Stärke. Und Liebe zerstört die Freundschaft.”

“Ich wiederhole, Männer”, knurrte Bit und wandte Nesfalador den Rücken zu. “Haltet Abstand!”

“Licht vernichtet Gold”, faselte Nesfalador. Er legte seine Hände an seinen Dolch. “Das Wort zerstört die Hoffnung. Der Klang macht den Mut zunichte, das Bild nimmt einem die Stärke. Und Liebe zerstört die Freundschaft.”

Ein Beben rüttelte am Rathausplatz. Nach und nach schmolzen die einzelnen Siegel und sackten in den Boden hinein. Hitze flimmerte in der Luft über ihnen. Dort, wo das Siegel mit dem Händedruck gestanden hatte, kletterten Flammen an der Zeltplane hinauf, und ein anderes Siegel zog den hinteren Teil eines Transportwagens in die Tiefe. Seine Reifen liefen wie schwarzer Käse von den Achsen.

“Licht, Wort, Klang, Bild und Liebe besiegen Gold, Hoffnung, Mut, Stärke und Freundschaft und zerstören somit Tharamant”, sprach Nesfalador, und während er versuchte, sich auf den Beinen zu halten, spürte er unglaubliche Kraft in all seinen Muskeln. “Kann nicht sagen, ob das stimmt, aber es wird zumindest dich zerstören, Eroberer!”

Steinplatten barsten. Splitter sprangen durch die Luft, und die Säulen am Eingang des Rathauses wackelten. Zeltstangen brachen, Leinen rissen, ein Geschütz versank im Boden und Soldaten stürzten zur Seite, als hätte sie ein unsichtbares Seil hinuntergezogen. Plötzlich schossen Staubfontänen aus den Fugen der Steinplatten hervor, und Nesfalador riss seinen Dolch in die Höhe, während Bit vor ihm mit den Händen wedelte und hustete. Die Luft stand voller Schreie, Schüsse und Donner, und es stank, als ob ein Schmied und ein Fleischer gemeinsame Sache machten: Verbrannte Luft, flüssiges Metall und schwelendes Fleisch drangen in Nesfaladors Nase, wie vor so langer Zeit, doch dieses Mal hatte *er* den Vorteil. Vor ihm tauchte Bit im Staub auf, und sein alter, bleicher Nacken zuckte aus dem Halsteil der roten Rüstung hervor wie ein Leuchtfeuer.

Plötzlich schrie etwas aus dem Inneren der Erde heraus. An jeder der fünf Ecken des Platzes kreischte eine Bestie, die unter dem Siegel geschlafen hatte, und im Staubnebel traten sie zuerst nur als Schatten hervor. Sie fraßen und wanden sich wie riesige Regenwürmer aus dem Erdreich, bevor sie ihre langen, dünnen Krallen in den Steinboden rammten und ihre haushohen Körper ins Tageslicht hoben. Geschuppte, lange Hälse spiegelten das Sonnenlicht in verschiedenen Farben, weiße Federn leuchteten wie Sommerwolken im grauen Nebel, und tausende von Augen überblickten das Chaos. Eine der Bestien kletterte etwa hundert Meter vor Nesfalador aus dem Boden und schüttelte Sand und Steine von der Haut wie ein Hund, der das Wasser aus seinem Fell wirft. An seinen Seiten standen weitere Mäuler aus dem Kopf heraus, und die Augen der Kreatur sahen aus, als hätte jemand zwei Körperzellen bei der Teilung unterbrochen.

An einer anderen Seite des Platzes sprang eine dunkelblaue Kreatur auf sechs kräftige, stämmige Elefantenbeine und öffnete ihre ledrigen Flügel wie ein frisch geschlüpfter Schmetterling. Als die Soldaten das Feuer eröffneten, schlug sie mit den Flügeln und wirbelte einen Sturm aus Staub in ihre Gesichter. Die Soldaten stellten ihre Schüsse ein und hoben die Hände vor die Augen, sprinteten durcheinander, suchten Ziele, feuerten blind ins Leere oder gingen hinter umgestürzten Wagen, Sturmschrecken und Barrikaden in Deckung. Vom Rathaus stürzten Trümmer herab, und die Säulen an seiner Treppe fielen zur Seite wie gefällte Bäume.

Nesfalador wusste, dass er schnell handeln musste. Am nordwestlichen Siegel riss ein schwarzer Schatten eine Sturmschrecke auseinander und warf beide Hälften über den Platz. Seine Haut bestand fast komplett aus bleichen Echsenaugen, die gemeinsam den Platz absuchten, und als die Augen seinen Blick trafen, klopfte sein Herz.

Er sprang einen Schritt nach vorne, fiel dann aber zu Boden, als die Steine unter ihm in die Tiefe sackten. Seine Hände schrammten über das Pflaster, und sein Knie schlug gegen den Fels. Einer der Beutel an seinem Gürtel riss ab. Nur noch wenige Geräusche drangen zu ihm durch – Bestien kreischten, Schüsse trommelten, Maschinengewehre verloren ihren Rhythmus, Häuserwände fielen übereinander, Sprengsätze donnerten. Als Nesfalador durch den Rauch und Staubnebel in die Stadt sah, sah er auf eine Stadt ohne Menschen. Efeu wuchs über die Trümmer an den letzten grauweißen Wänden empor, die noch standen. Zwischen den einzelnen Kopfsteinen der Straßen und Plätze spross das Unkraut, und in den Kratern streckte Gras seine Halme in die Höhe. Der weißen Stadt wuchs ein grünes Kleid, das sofort wieder verschwand, als er sich die Augen rieb und den Kopf schüttelt wie ein Betrunkener, der den Rausch vertreiben will.

Mit zitternden Armen hob er seinen Oberkörper in die Höhe, bis seine Füße Halt am Boden fanden. Der Nebel hatte Bit gefressen: Nesfalador konnte ihn nirgendwo sehen. Alles, was er sah, waren sterbende Menschen und dunkle Monster aus der Unterwelt.

10: Lagerhaus

Es war dunkel.

Vherendie schlich an runden Holzfässern vorbei, die im kalten Schatten dicker Steinmauern schliefen. Sie standen auf flachen Kisten und Podesten aus Holz, und zwischen ihnen zogen sich meterhohe, knochige Regale aus dünnem Metall durch das Lager. Durch einen breiten Riss in der Mauer hinter Vherendie fiel bleiches Licht in die Halle, doch es konnte die Nacht nur schwer aus dem Lager verbannen; Vherendie nahm bald nur noch Schatten wahr.

Einen großen Teil des Raumes hatte man in den Boden hineingegraben, denn so lagerten die großen Händler in Tharamant: Dicht an der Erde, ohne Licht. Die unverderblichen Waren mussten daher auf den oberen Regalbrettern liegen, doch Vherendie fand in der Dunkelheit keine Leiter, um zu ihnen hinaufzuklettern. Außerdem wusste sie nicht, wo sie suchen sollte: Die Halle war groß, und sie ahnte, dass sie nicht viel Zeit hatte.

“Hast du schon etwas gefunden?”, rief Vedian ihr hinterher. Er stand am Riss in der Mauer, durch den Vherendie hineingekommen war. Das Tageslicht umspülte ihn, sie konnte nur seine Umrisse sehen, und seine Stimme klang, als spräche er in einer alten Kathedrale.

“Ist dunkel hier”, rief sie zurück. “Ich suche nach dem Büro. Dort finde ich vielleicht ein Warenverzeichnis.”

“Mach’ das. Aber ich halte das noch immer für eine schlechte Idee.”

Sie schnaufte und schüttelte den Kopf.

“Vertrau’ mir doch einfach”, murmelte sie in die Dunkelheit hinein. Dann ging sie weiter. Ihre Augen sahen schwarze, eckige und bauchige Schatten. Vorsichtig setzte sie einen Fuß vor den anderen und tastete sich mit den Händen an den Regalen entlang, während der Staub unter den Sohlen ihrer Stiefel knirschte.

Irgendwo in den Schatten sah sie einen großen Kasten, und als sie näher kam, erkannte sie, dass es die Wände eines kleinen Raums waren, der in die Halle hineinwuchs. Verdunkelte Fensterscheiben hingen in seinen Wänden; Vherendie erkannte sie nur, weil sie durch einen kleinen Schlitz an ihren Rändern einen schwachen Schimmer aus dem Inneren des Raumes in die Halle ließen. Hier musste das Lagerbüro sein.

Sie tastete sich an Wänden des Raumes zur Klinke der Tür vor, die kalt und schwer in ihrer Hand lag. Leise drückte sie die Klinke nach unten und erschrak, denn die Tür öffnete sich ohne jeden Widerstand. Leise zog sie die Tür nach hinten. Tageslicht floss ihr entgegen, und es war so stark, dass sie ihre Augen zusammenkniff, bevor sie in die Kammer trat.

Hohe Fenster ließen Sonnenlicht in das Büro hineinfallen; doch vor den Fenstern, die in die Lagerhalle sahen, hingen dicke, schwarze Gardinen, auf denen goldene Fäden die Formen von Wellen und Meeresvögeln zogen. Auf einem Schreibtisch lagen Stapel aus Papier, manche von ihnen in Mappen aus fester, bunter Pappe. Vier verschiedene Stifte, ein paar Federn, ein Tintenglas, ein Messer, mit dem jemand womöglich Briefe geöffnet hatte, und eine Schreibmaschine kämpften um Platz auf dem Tisch, zusammen mit einer dunkelblauen Teetasse, die in der rechten, oberen Ecke des Tisches neben einem vollen Aschenbecher stand. An der niedrigen Wand neben dem Schreibtisch lehnte ein Regal, in dem schwere, graue Ordner die massiven Regalbretter in ihre Plätze drückten.

Sie hörte ein paar Schritte aus der Halle. Dann fiel ihr Blick erneut auf das Messer, das auf den Schreibtisch lag. Sie öffnete ihren Rucksack, nahm das Messer und warf es hinein, bevor Vedian durch den Türrahmen trat.

“Mensch, da draußen ist irgendetwas los”, sprach er. Vherendie drehte sich zu ihm um und blickte ihn an, während er mit gesenkten Brauen in die dunkle Lagerhalle sah.

“Wie, vor der Halle?”

Er schüttelte den Kopf.

“Nein”, sagte er. “In der Innenstadt. Plötzlich fingen die Schüsse wieder an. Irgendwas rumpelt da draußen… Hier drinnen hört man es nicht so sehr. Hast du was gefunden? Mir ist etwas eingefallen…”

Auch sie schüttelte ihren Kopf. Dann wischte sie sich eine Strähne aus ihrem Gesicht, schob ihre Brille den Nasenrücken hinauf und blätterte durch die Papiere auf dem Schreibtisch.

“Hier muss irgendwo eine Bestandsliste liegen”, murmelte sie, öffnete eine Mappe und zog ein paar der Papiere hinaus. “Irgendein Lagerindex.”

“Vherendie”, sprach Vedian. “Ich werde das vielleicht bereuen, weil ich es immer noch für eine schlechte Idee halte. Aber mir ist eben mein Großvater eingefallen, als ich draußen stand. Ich stand ihm nicht sonderlich nahe, aber er war Händler und erzählte mir, dass es unter den Lageraufsehern üblich war, ein Gewehr im Büro zu haben. Reiche, gelangweilte Jugendliche machten sich zu der Zeit einen Spaß daraus, nachts in die Lager einzubrechen. Mein Großvater erzählte mir mal so eine Geschichte, denn als er jung war und-“

Vherendie sah ihn an und nickte.

“Das wäre perfekt”, sagte sie. “Aber wo?”

“Das weiß ich auch nicht.”

Vherendie sah über den Schreibtisch, an seine Seite und unter seine Tischplatte, unter dem sie jedoch nur Hausstaub und einen vollen Papierkorb fand, in dem sich zerissene Papierfetzen um Apfelreste und Zigarrenstummel schlungen. Sie zog ihren Kopf unter dem Tisch hervor und starrte das Regal an, stellte sich auf ihre Zehenspitzen, um auf das oberste Fach zu sehen, dann tippte Vedian seinen Finger an ihre Schulter.

“Vherendie, da”, sagte er und zeigte in Richtung der Tür. Vherendie folgte seinem Finger und sah ein Gewehr, das an kurzen Lederriemen an einem Brett neben dem Türrahmen hing. Der Lauf schimmerte im Sonnenlicht wie auch der Lack, der auf dem Holz lag.

“Und unsere Stadtwache nutzt noch immer Hellebarden”, murmelte sie, ging zum Gewehr und öffnete die Lederriemen. Sie griff das Gewehr mit ihrer linken Hand und fühlte ihr Herz klopfen, als sie es in ihrer Hand spürte. Es war ein Jagdgewehr, wie sie es aus Kindertagen kannte, bevor sie mit ihren Eltern geflohen war.

“Der ganze Kontinent nutzt keine Gewehre”, murmelte Vedian. “Abgesehen von Senev und Gadagor, die sich aber nur gegenseitig Angst machen wollen. Für alle anderen ist es zu teuer und zu ineffizient. Weißt du, wie lange es dauert, so ein Ding nachzuladen?”

“Nein”, sagte sie und sah ihm in die Augen. “Und das ist auch nicht wichtig. Ich plane nicht, damit zu schießen. Zumindest vorerst nicht.”

Er warf seine Stirn in Falten und zog seine Augenbrauen weit nach unten. Als er den Mund öffnete, um etwas zu sagen, fiel Vherendie das erste Mal auf, dass sie ihn noch nie mit Bartstoppeln gesehen hatte; er hatte sich immer rasiert. Im grellen Licht, das durch die Fenster fiel, sah sie die vielen kleinen Haare, die sich um seinen Mund, an seinem Kinn und an den Wangen an die Oberfläche seiner Haut kämpften.

“Du solltest ihn wachsen lassen”, sagte sie, bevor er etwas sagen konnte. “Den Bart. Das wird dir in dieser neuen Welt helfen, glaube ich. Komm’ mit, auf zum Bahnhof!”

Sie ging an ihm vorbei und lief mit weichen Schritten durch die Lagerhalle, als plötzlich die Regale, Kisten und Fässer zitterten. Der Boden bebte unter ihren Füßen, und sie taumelte die letzten Schritte auf den Riss in der Mauer zu. Als sie wieder im Tageslicht stand, sah sie sich um: Putz rieselte von den Häuserwänden herab, und kleine Sandkörner tanzten in den Rillen zwischen den Kopfsteinen, die zu ihren Füßen lagen. Vedian holte zu ihr auf und hielt beide Arme zur Seite, als ob er auf einem Bordstein balancierte.

“Ein Erdbeben?”, rief er. “Das jetzt auch noch?”

Aus dem Stadtkern schossen schrille Schreie, die wie eine bremsende Eisenbahn klangen, aber aus dem Bauch einer vielköpfigen Bestie stammen mussten. Vherendie kannte kein Tier, das solche Laute von sich gab, und wenn es solche Laute von sich gab, dann wollte sie es auch nicht kennen lernen. Kurz darauf ratterten Gewehre in der Ferne, und Feuer schoss vom Stadtkern aus in den Himmel. Schreie schallten durch die Ruinen, und sie klangen wie aus dem Rachen eines uralten Krokodils.

“Das kommt vom Rathausplatz!”, rief Vherendie und starrte in die Luft.

“Und sieh’ dir das mal an!”, sagte er. Sie folgte dem Finger, mit dem er in die Ferne deutete. Ein wolkenweißer Fleck stieg über den Dächern auf. Er hob sich wie ein Adler mit kräftigen Flügelschlägen in die Luft, doch das Wesen war viel zu groß für einen Vogel. Es musste, so schätzte Vherendie, die Länge einer ganzen Straßenbahn haben, doch aus der Ferne konnte sie sich nicht sicher sein. Von seinem Schlangenkörper hingen vier schlaffe Beine herab, und hinter sich her zog das Tier einen langen, dürren Schwanz, der wie ein Band im Wind flatterte.

Rechts von ihm startete ein Luftschiff der Invasoren. Es drehte sich im Wind und schoss gleißende, starre Blitze von der Unterseite seiner Flossen. Die Blitze verfehlten das flinke weiße Wesen, das sich ein paar Sekunden lang wie ein Wirbelsturm senkrecht in den Himmel schraubte, bevor es wendete, schrie und mit weitem Maul auf das Luftschiff hinabstürzte. Alle vier Glieder krallten sich in den glänzenden Panzer. Dann biss das Tier hinein, riss ein riesiges Stück Metall aus der Maschine und schleuderte es ins Häusermeer unter ihm. Die Maschine verlor ihren Halt in der Luft und taumelte wie ein Ahornsamen im Wind. Mit dem Kopf voran donnerte sie in die Rathauskuppel und riss ein riesiges Loch in sie hinein, während das Tier kurz über den Dächern in die Höhe sprang und auf einem Ziegeldach landete. Rauch stieg aus der Kuppel auf, und selbst aus der Ferne konnte Vherendie den ausgefransten Rand und die Mauern erkennen, die langsam in sich zusammenfielen.

“Vedian… Bitte sag’ mir, dass du das auch gesehen hast”, sagte sie und wusste nicht, ob sie lachen oder rennen sollte. Die Schreie der Flugechse hallten über den Himmel, und neue Feuer brannten in der Stadt.

“Ja. Habe ich”, antwortete er und nickte langsam, ohne seine glänzenden Augen vom Himmel zu nehmen. “Das war fantastisch!”

11: Blau

Mit zitternden Beinen humpelte Ancardia in einen dunklen Gang hinein. Sie wusste es nicht mehr, aber sie hoffte, dass er sie in den Knochendom führte, in den sie mit Dahales hineingestürzt war. Wenn die Soldaten einen Weg in die Unterwelt gefunden hatten und auf dem Rückweg waren, als die Rote sie überfiel, dann musste es auch einen Weg ans Tageslicht geben.

Hinter ihr verklangen die Schreie der Roten in der Leere der Tunnel, bis nur noch Ancardias Schritte in der Dunkelheit hallten. Doch sie dachte nicht daran, stehen zu bleiben.

Ein dumpfer Donner zerrte an den Wänden, un ein Beben warf sie von den Füßen. Knirschende Steine bröckelten aus der Decke und trafen sie an der Schulter, am Rücken und am Bein. Hinter ihr brach ein Felsen von der Größe eines Sessels aus der Wand. Als sie über ihre Schulter blickte und sah, dass der Stein sie beinahe zerschmettert hätte, lief ihr ein Schauer über den Rücken. Sie hob sich auf ihre Beine, hielt ihre Hand an eine der zitternden Wände und lief weiter. Jeder Schritt stach durch ihre Beine bis zur Wirbelsäule und in den Kopf hinein, ihr Herz trommelte, sie fror, und der Stoff auf ihrer Haut *wollte einfach nicht trocknen*.

Sie biss ihre Zähne zusammen und sprang die letzten Schritte durch den Tunnel. In der Ferne rüttelten die tiefen Laute wütender Biester an den Wänden: Etwas erwachte. Sie erinnerte sich an die Halle mit den fünf Säulen, und an die Augen, die sie in einer von ihnen gesehen hatte. Hastig tastete sie sich durch die Dunkelheit, während in der Dunkelheit vor ihr blassgrüne Lichter auftauchten. Einige von ihnen stiegen in die Höhe, fielen dann wieder, wie Wale, die aus den Wellen springen, bis irgendwann alle tanzten wie ein Nebel aus Sternen vor ihr tanzten. Sie drehten sie sich im Kreis umeinander, fanden zu den anderen Bildern und formten das blasse, leuchtende Gesicht einer Frau ohne Wangen und Lippen. Ihre Zähne leuchteten bleich wie der Mond in die Unterwelt hinein.

Ancardia spürte die Hitze eines Fiebers in ihren Kopf steigen und blieb stehen. Sie keuchte schwer und riss die Hand vor ihr Gesicht, doch die Bilder flimmerten in ihrem Kopf, nicht vor ihren Augen. Panisch sah sie zur Seite, nach oben, nach unten und nach hinen, doch überall starrte der Kopf aus Licht auf sie herab. Er wellte sich wie auf einem Teich, in den man einen Kiesel wirft, und nach ein paar Sekunden wuchsen die Haare, die Augen wurden größer, die Nase etwas dicker. Der Kiefer zog sich zurück. Ancardia rieb sich die Augen, stürzte an die nächste Wand und krümmte sich vornüber.

Es war ihre Mutter.

Mit strengem Blick sah sie auf sie herab, dann zogen Falten in ihr Gesicht, und ihre Haare verschwanden: Eine Brille wuchs auf der Nase. Ancardia erkannte das Gesicht sofort: Es gehörte Professor Anduras, ihrem ersten Schrift- und Sprachlehrer, der ihr schon als Kind geraten hatte, ihr Glück im Schreiben zu suchen. Doch bevor sie verstand, was es bedeutete, verschwamm das Gesicht verschwamm erneut: Dieses Mal war es Olisia, ihre Vorgesetzte beim Tagesboten; und dann verschwamm das Gesicht erneut, um den Bart und die langen Haare von Dahales zu zeichnen. Ancardia fiel zu Boden und keuchte. Unter ihren Händen spürte sie die kalten, verwitterten Treppensteine, die zum Knochendom hinaufführten, während ihr Herz ein Tor zur unendlichen Leere öffnete.

“Verschwindet!”, schrie Ancardia in die ewige Nacht hinein. Die Muskeln in ihren Beinen brannten, und in ihrem Kopf spukten all diese Menschen herum: Ihre Mutter, ihre Lehrer, ihre Vorgesetzten, Dahales. All diese Menschen, die ihr einen Weg gezeigt hatten, der letztendlich in die Unterwelt unter Tharamant führte.

Sie biss ihre Zähne zusammen und schloss die Augen, bevor sich neue Tränen aus ihnen hervorkämpfen konnten.

Nach ein paar Sekunden stemmte sie sich wieder auf ihre Beine und atmete tief ein. Die Erde bebte nicht mehr, und die grünen Lichter verblassten in der Dunkelheit, bis auf einen Schimmer, der in der Ferne wartete.

Langsam hob Ancardia ihre Hand und tastete sich an der rauhen Wand entlang, aufwärts, bis die Dunkelheit ein wenig heller wuchs. Obwohl der Gestank der Kanalisation in ihre Nase stieg, wehte ein Hauch von frischer Luft in ihr. Ancardia kam es vor, als ob sie seit Jahren nicht mehr gerochen hatte, was der Wind vom Meer in die Stadt trug.

Schließlich stand sie am Eingang zum Knochendom und humpelte an grauen Wänden vorbei, in denen die Knochen längst vergessener Menschen steckten. Ancardia kniff ihre Augen zusammen: Durch ein Loch in der Decke fiel grelles Tageslicht, und der Wind heulte, wann immer er in den Dom hinabstieg. Auf dem Knochenberg in der Mitte des Doms ruhte eine gefallen Kreatur aus Metall. Sie sah aus wie eine übergroße Heuschrecke aus Metall. Alles Leben schien sie verlassen zu haben. Allein ihre Scheinwerfer an der Front leuchteten, doch Ancardia konnte sehen, dass das nicht lange so bleiben sollte.

Nach ein paar Schritten merkte sie, dass sie das Knochenschwert mit beiden Händen vor sich hielt – als ob sie fürchtete, dass die Schreckenmaschine aufstünde, um sie zu verschlingen. Sie schüttelte den Kopf, senkte das Schwert, befestigte es an ihrem Gürtel und sah zur Maschine hinauf.

Es gab nur einen Weg.

Sie setzte ihren Fuß auf den des Berges. Knochen brachen unter ihren Stiefeln, knackten und barsten wie trockenes Holz, doch Ancardia interessierte das nicht mehr. Nach und nach stieg sie höher, bis sie vor einem der Heuschreckenbeine stand. Sie hielt sich mit beiden Händen am kalten Metall fest, stemmte einen Fuße an einen Zylinder, der aus dem Bein ragte, und zog sich hinauf. Ihre Arme fühlten sich an, als ob sie jeden Moment reißen wollten, und als sie sich vom Oberarm der Schrecke auf das eingedellte Dach rollte, glaubte sie, dass sie den blauen, wolkenlosen Himmel über ihr sehen konnte.

Vom Dach der Schrecke kletterte sie weiter nach oben, bis sie am Rand eines versiegten Abwasserkanals stand. Hier hatte die eingebrochene Maschine so viel Geröll aus der Straße in die Tiefe gerissen, dass Ancardia über einen Trümmerhaufen auf das klobige Kopfsteinpflaster kriechen konnte. Sie fiel vornüber und blieb auf dem Bauch liegen, und ihr Atem ging wie der eines Fisches auf dem Land. Auf ihrem Rücken spürte sie die warme Sonne, und nach einer Weile drehte sie sich auf die Seite und sah in den endlos blauen Himmel. Selbst der graue Staub der Stadt konnte ihn nicht verbergen, und in diesem Moment glaubte Ancardia, dass er eine Farbe trug, die es unterhalb von Tharamant nicht geben konnte.

Sie blieb noch eine Weile liegen und wartete, bis sich ihre Lungen und ihr Herz beruhigten. Dann drehte sie sich zurück auf ihren Bauch, hob sich auf ihre Knie, holte tief Luft und stand auf. Ihre Beine zitterten noch immer, doch in der Ferne sah sie den Bahnhof. Wenn hier noch Züge standen, sollte dies der schnellste Weg aus der Stadt sein, und das war alles, was sie jetzt noch wollte.

12: Jäger

Nesfalador rannte durch den dichten Staubnebel. Seine Füße schmerzten bei jedem Schritt, den seine Stiefel in das Steinpflaster traten. Überall erschallten die Stimmen der Bestien in der Stadt, und sie heulten wie aus tausend Hälsen. Knochen brachen, Muskeln rissen, Häute brannten und Köpfe fielen, und jeder neue Klang ließ Nesfalador schneller rennen.

Als im Nebel vor ihm ein Soldat auftauchte, trieb Nesfalador ihm seinen Dolch in den Spalt zwischen Helm und Halsteil. Er warf ihn zu Boden und sprang dann über ihn hinweg, ohne eine einzige Sekunde dabei zu verlieren. Dann rannte er durch einen Krater hindurch, der so breit wie die Straße war und in der unzählige silbergraue Rüstungen mit offenen Brustkörben lagen. Gebäudereste stürzten zusammen, als hätten ihre Mauern und Balken nur darauf gewartet, sich zur Ruhe zu setzen. Von den letzten Wänden flog weißer Putz wie ein Schwarm aus winzig kleinen Sporen, die nach neuer Erde suchten.

Nesfalador spürte, wie der Schweiß in den Stoff drang, der auf seiner Haut lag. Doch er hielt erst an, als er in den Schatten einer Steinbrücke kam. Sie war viel zu niedrig für die vielen Kutschen und Straßenbahnen, die er in der Stadt gesehen hatte, und selbst ein größerer Mensch musste es schwer haben, ungebeugt unter ihr hindurchzugehen. Hektisch sah er sich um, zu allen Seiten, dann kroch er in den Schatten der Brücke hinein, hockte sich an eine Wand zu seiner Seite und starrte auf die Kreuzung, die nur wenige hundert Meter vor ihm lag. Hier feuerten bellende Soldaten ins Leere, während eine Sturmschrecke hinter ihnen wie ein Wasserläufer über die Straße sprang und alle sechs Beine in den Boden stemmte. Ein Soldat stand hinter dem Geschütz auf dem Dach und feuerte wilde Blitze über die Kreuzung, und dann tauchte eine der Bestien auf. Wie ein rennendes Nashorn sprintete sie über die Straße. An ihrem Kopf wuchsen lange, grüne Federn über riesigen Eulenaugen, und als sie stehen blieb, spie sie einen Schwall zäher, schwarzer Tinte auf die Sturmschrecke und alle Soldaten, die das Pech hatten, in ihrer Nähe zu stehen. Panische Schreie schallten durch den Nebel, und es roch nach heißem Teer, als sich die Tinte durch Panzerplatten, Haut, Fleisch und Knochen fraß. Der Boden unter der Schrecke löste sich auf, und nur wenige Sekunden später versank die ganze Maschine im Boden.

Schreiend sprang die Bestie über das Loch hinweg und verschwand von der Straße, während Nesfalador langsam aus dem Schatten trat. Er setzte vorsichtig einen Fuß vor den anderen; sein Herz klopfte und sein Hirn pochte, und er keuchte wie ein Hund an einem heißen Sommertag. Schreie und Schüsse drangen aus der Ferne, während die Tinte wie eine heiße Quelle brodelte. Aus dem Tümpel stiegen Dämpfe wie aus einem alten, fauligen Sumpf auf, und Nesfalador wusste, dass es nicht gesund sein konnte, über die Kreuzung zu laufen.

Er tat es trotzdem. Der schwarze Schleim in den Löchern sprang wie kochendes Wasser in einem Kochtopf auf- und ab, und wenn er auf einen Stein am Rand traf, fauchte er wie kochendes Fett, das ein Stück Fleisch verschlang.

Leise rannte Nesfalador zum Ende der Straße und sprang auf einen Trümmerhaufen, kletterte über wackelnde Steine und fiel dann auf eine runden Platz herab, auf dem der Angriff einen Markt zerstört hatte. Hölzerne Kisten, Stellwände, Wagenräder und Zeltplanen schufen wirre Gänge, die ein Labyrinth ohne Ausgang zeichneten. Bunte Stoffbahnen flatterten im Wind, angesengt an ihren Rändern, und ein Hügel aus matschigen Kartoffeln füllte einen Krater. Mehlsäcke lagen wie die Mauern eines umgestürzten Turmes auf dem glatten Pflaster, und es roch nach Fisch, rohen Zwiebeln, altem Brot und den Fliegen, die auf dem Markt ihr neues Zuhause fanden.

Nesfalador duckte sich und ging hinter einem der gefallenen Wagen in Deckung. Auf dem Platz feuerten Soldaten auf eine Bestie in der Mitte des Platzes. Sie trug am ganzen Körper Augen, die sich schlossen, wenn die Kugeln sie trafen; Blut spritzte aus ihren Rändern, und nach kurzer Zeit öffneten sie sich wieder, intakt und voller Zorn.

Bald hatte die Bestie genug. Sie hob ihre Vorderpranke und zog sie wie einen Pflug durch den Boden. Sie warf Holzbretter und Splitter durch die Luft, bis sie einen der Soldaten zu fassen bekam. Mit ihrem Maul riss sie ihn auseinander, während sie auf der Klaue an ihrer anderen Pranke den nächsten Soldaten aufspießte. Dann warf sie sich auf die ganze Gruppe, die sich zu spät zur Flucht gewandt hatte, und zerdrückte den letzten wie einen Käfer unter ihrer Pranke. Sie kreischte und kletterte auf das bröckelnde Dach eines Hauses, bevor sie die Flügel öffnete und in den Himmel stieg.

Nesfalador schwieg und klammerte sich mit beiden Händen am Wagen fest. Stille, Staub und Sterben zogen mit dem Wind über den Marktplatz, und für ein paar Sekunden glaubte er, dass sein Herz lauter schlug als alle Geräusche, die aus der Stadt kamen. Doch er war noch nicht fertig, und da, wo die Trommeln am wildesten schlugen und die Feuer am hungrigsten loderten, musste sein Ziel sein. Er stand auf und schloss die Augen, und in der Schwärze dachte er an das, was ihn in die Stadt geführt hatte. Sein Herz schwieg für einen Moment und er biss seine Zähne zusammen, bevor er sich dem Sturm zuwandte und zur nächsten Straße lief. An seinem Gürtel schwangen die Beutel, als ob sie ein eigenes Leben hätten, und auf seinem Rücken schaukelte der Rucksack von einer Schulter zur anderen. Seine Schritte trugen ihn an flachen Mauern vorbei, hinter denen hohe Händler einst ihre Geschäfte versteckt hatten. Goldene Rahmen verzierten die Fenster, und eine der Wände trug sogar eine riesige, fein gemeißelte Münze in ihrer Mitte.

Jeder Schritt ließ den Sturm in der Ferne lauter tosen. Bald wusste Nesfalador, dass er auf dem richtigen Weg war: Am Himmel stieg eine Rakete auf und verfehlte eine dunkelrote Bestie, die nur wenige Straßen vor ihm zwischen den Häusern landete. Nesfalador hörte sie grunzen, dann kreischen, und dann sah er ihren Kopf zwischen den Dächern auftauchen. Gewehrkugeln bohrten sich in ihren Hals und durchlöcherten ihre Flügel, die sie in den Himmel reckte, als ob sie versuchte, das Sonnenlicht aus der Luft zu fangen.

Nesfalador drückte sich an eine Wand und starrte. In den Flügeln der Bestie schlossen sich die Löcher. Neue Adern schlugen ihre Schatten in die ledrige, bernsteinrote Haut; es dauerte nur wenige Sekunden. Die Bestie kreischte und trampelte. “Männer, nicht nachgeben!”, rief eine Stimme durch den Lärm hindurch, und Nesfalador wusste, dass er am richtigen Ort war.

Er lief durch eine offene Tür und sprang ein Treppenhaus empor. Vor ihm tauchten neue Türen auf, und eine führte zu einem Fenster, von dem aus er zur Bestie sehen konnte. Er duckte sich neben eine weiße Badewanne, kroch zum Fenster heran und sah vorsichtig über die Fensterbank hinweg in den Innenhof. Im Becken eines Springbrunnens lag die Statue einer Frau in langen Kleidern, und an seinem Rand wuchsen rote Blumen auf grünem Gras, in das die Bestie riesige, braune Krallenabdrücke grub. Plötzlich fiel sie zu Boden und zuckte wie eine sterbende Schlange, während dutzende von Kugeln aus den umliegenden Fenstern durch ihre Haut jagten. Dunkles Blut spritzte über das Gras, und ausgerissene Halme wirbelten in lichten Schwärmen durch die Luft.

“Konzentriert das Feuer!”, schrie der Anführer der Soldaten aus einem der Fenster, die zum Innenhof zeigten. Seine Stimme hallte von Wand zu Wand, und Nesfalador suchte die einzelnen Fenster ab, um ihn zu finden. Doch er konnte nichts erkennen. Im Erdgeschoss stiegen Soldaten in silbernen Rüstungen aus den Fenstern und Türen und bliesen eine Kugel nach der anderen in den zitternden Leib der Bestie. Sie schrie und fauchte und wühlte Erde mit den Krallen auf, als sie sich wieder auf ihre Beine stellen wollte. Doch jede neue Salve warf sie wieder zu Boden, und sie wand sich wie ein Aal, bis sie schließlich erschlaffte und reglos liegen blieb.

Nach und nach verschwand der Donner, der aus den Gewehren schoss. Die Soldaten im Hof senkten ihre Waffen und traten an die tote Bestie heran, während weitere von ihnen aus den Häusern kamen, in denen sie sich verschanzt hatten. Einer von ihnen trug keinen Helm, aber eine rote Rüstung, die Nesfalador sofort erkannte. Sein Herz klopfte und er grinste breit. Während er eine Hand an der Fensterbank hielt, führte er die andere zum Griff seines Dolches. Jetzt musste er nur noch warten, bis der Eroberer alleine war. Er konnte auf keinen Fall all diese Soldaten ausschalten, die ihn bewachten.

Einer von ihnen trat an den Kopf der Bestie heran und tippte den riesigen Unterkiefer mit dem Lauf seines Gewehres an. Ein anderer trat mit seinem Fuß gegen eine der Hinterklauen, und der Soldat neben ihm strich mit der Hand über den schuppigen Unterschenkel.

“Gute Arbeit, Männer”, rief Bit über den Platz. “Vorrücken zu Position EN-31 und-“

Ein Flügel der Bestie zuckte, und plötzlich trat das Hinterbein zwei der Soldaten an eine Häuserwand. Sie riss den Kopf herum, stülpte das Maul über den nächsten Soldaten und rammte ihre langen, dünnen Zähne in ihn hinein. Dann packte sie seine Beine mit der Vorderklaue und riss den Oberkörper von seinen Beinen.

Sofort donnerten die Gewehre. Die Bestie sprang auf und zerdrückte einen weiteren Soldaten mit ihren Pranken. Sie warf ihren massigen Schädel in den Nacken und krallte sich breitbeinig wie ein Krokodil in den Boden. Von allen Seiten feuerten Soldaten auf sie, doch die Kugeln verschwanden in ihrem Körper, und die Wunden schlossen sich in wenigen Augenblicken.

Die Bestie hob den Kopf in den Nacken und kreischte in den Himmel hinein, und für ein paar Sekunden starb jedes andere Geräusch. Nesfalador spürte, wie der kalte Klang nach seinem Herzen griff. Sein Atem hechtete schneller, als er sollte, und seine Finger krallten sich in das Marmorbrett der Fensterbank, als ob sie hofften, eine Fuge hineindrücken zu können.

Schließlich reckte die Bestie ihren langen, steifen Hals nach vorne und verharrte dort. Unter der Haut bewegte sich etwas: Der Hals wölbte sich wie der einer Schlange, die ein Ei verschluckt, und die Beine und Flügel zitterten, als ob ein Krampf durch ihren gesamten Körper fuhr. Plötzlich schossen blutrote Schleimfäden aus ihrem viel zu kleinem Maul. Sie sprühten in drei oder vier klebrigen Wellen über den Hof, mehrere Meter weit, und als die Schleimklumpen an die Mauern der Häuser klatschten, klang es wie ein Eimer voller Wasser, der eine Wand traf. Der Schleim warf die Soldaten vor dem Wächter zu Boden und kroch wie ein Ameisenschwarm in die Spalten der Rüstungen hinein. Die Soldaten zuckten, wälzten sich auf dem Boden und kreischten unter Schmerzen. Nach ein paar Sekunden verhallten ihre Schreie, und sie sackten leblos zusammen.

Nesfalador starrte auf den stillen Innenhof. Nur wenige Soldaten waren dem Schleim entkommen. Sie zitterten, und die Läufe ihrer Waffen zeigten ratlos zum Boden. Der Kopf des Untiers hing schlaff vom Hals, kleiner als zuvor, kraftlos, und ohne Spannung in den Muskeln. Die Bestie atmete schwer und schüttelte nach ein paar Sekunden Schleim- und Wassertropfen von ihrer Haut. Dann brüllte sie, kratzte mit ihren Klauen einen Torso aus den Zähnen heraus und sprang in den Himmel. Nesfalador sah ihr hinterher.

*Freie Bahn.*

“Was im Namen der Unteren Viertel war das?”, schrie eine Stimme, doch im selben Moment übertönte sie ein anderer Klang. Berstendes Metall und knackende Knochen fauchten aus den Rüstungen der toten Soldaten empor, und einer der Panzer platzte wie ein Ballon. In den Resten aus Mensch und Rüstung schüttelte eine kleine, blutrote Echse den Schleim von ihrem Körper, bevor sie ihr Maul aufriss, über den Hof sprintete und einem Soldaten an die Kehle sprang. Im Springbrunnen fraßen sich zwei weitere Echsen aus den Rüstungen, bevor sie aus dem Becken kletterten und einen anderen Soldaten zu Boden zogen. Panische Schreie hallten von Wand zu Wand.

Nesfalador stand auf. Er zog seinen Dolch und rannte die Treppe hinunter.

13: Bahnhof

Die Sonne warf ihre Strahlen an die hohe, blasse Fassade des Bahnhofs. Über dem Eingang thronte eine alte Uhr, und neben ihr schwammen starre, in den Stein gemeißelte Pottwale auf den Wänden. Vherendie konnte sie schon aus der Ferne sehen, doch dem rechten Wal fehlte der Kopf: An seiner Stelle klaffte ein Krater in der Mauer, über dem das Relief eines Walfangbootes durch die Wellen brach. Mehrere Säulen lagen in einzelnen Stücken auf den Treppen, die ins Tor des Bahnhofs führten, und auf dem Platz vor ihm reckten unzählige Menschen ihre Köpfe in die Höhe. Sie saßen auf den Stufen, wippten ungeduldig von einem Bein aufs nächste, warfen die Hände in die Höhe, rannten umeinander her, und von allen Seiten kamen neue Menschen hinzu, Tharamantiner und Reisende, die zur falschen Zeit am falschen Ort gewesen waren. Vherendie sah Mütter, die ihre Kinder an den Händen führten und winkende Arme, die in der Ferne unscheinbar dünn und kurz in den Himmel ragten; zumindest glaubte sie, dass sie das sah. Die Ferne und der Riss in ihrem Brillenglas machten es schwer, Details zu erkennen.

Sie zog am Ledergurt, der das Gewehr auf ihrem Rücken hielt, und sah zur Seite. Neben ihr ging Vedian, und bei jedem seiner Schritte schnaufte er. Seine Stirn glänzte schweißnass im Sonnenlicht, und seine Arme hingen schlaff von den Schultern herab. Sie vermutete, dass er sofort einschlafen würde, wenn er sich irgendwo hinsetzen könnte.

“Rauchst du jetzt eigentlich, oder hast du es dir doch anders überlegt?”, fragte sie ihn. Er lächelte, aber nicht viel.

“Ich weiß nicht”, murmelte er. “Es hatte nicht wirklich die Wirkung, die ich mir erhofft hatte.”

“Ich frage nur, weil wir jetzt schon eine Weile unterwegs sind”, erklärte sie, “und weil du auf dem ganzen Weg seit meinem Elternhaus nicht einmal geraucht hast. Wie geht’s deinem Bauch?”

“Danke, gut”, sagte er. “Brennt ein bisschen. Vielleicht hebe ich mir die Zigaretten auch nur auf, weil ich nicht weiß, wann ich an die nächsten herankomme.”

Die Bahnhofsallee führte sie in einer geraden Linie zum Bahnhofsplatz, und zu ihren Seiten sah es fast so aus, als ob die Stadt noch stünde. Vherendie sah unversehrte Bäckereien, und vor ihren glänzenden Schaufenstern standen noch immer Klapptafeln aus dunklem Holz, die den gestrigen Preis der Erdbeertorten in ruhigen Kreidebuchstaben verkündeten. Stühle, Tische und weiße Sonnenschirme standen auf der Terrasse eines Teehauses, als ob sie immer noch auf ihre schlürfenden Gäste warteten, und die Bäume an beiden Seiten der Straße schüttelten ihre grünen Blätter im Wind, als hätten sie in den letzten Tagen in einer anderen Welt gelebt.

Lediglich eine Kutsche, die am Straßenrand parkte, zeigte Vherendie, dass sie in einem Teil der Stadt unterwegs war, in dem nur noch Geister lebten. Jemand hatte die Pferde befreit, und die Kutschentüren standen weit offen. Ein paar helle Möwen saßen auf ihrem Dach und starrten Vherendie und Vedian an, als hätten sie noch nie in ihrem Leben Menschen gesehen.

“Bei Andalor, endlich, wir sind da”, stöhnte Vedian.

“Ja, endlich sind wir da”, sagte sie und lächelte. Doch das sollte nicht lange halten.

Je näher sie dem Bahnhof kamen, desto öfter gingen sie an den Spuren des Angriffs vorbei. Abgebrannte Häuser lehnten sich von der Straße weg, wenn ihre Balken sie noch aufrecht halten konnten, und schwarze, astlose Bäume ragten wie Pfähle in den Himmel. Scherben und Puppen mit angesengten, blauen Kleidern lagen vor dem zerstörten Schaufenster eines Spielzeugladens, ebenso wie entgleiste Holzeisenbahnen und geplatzte Lederbälle. Manch ein Haus fehlte ganz; stattdessen gähnten tiefe Krater im Erdboden, und in ihnen lagen Rohre und Tunnel, die in die Kanalisation führten.

“Glaubst du wirklich, dass uns das Ding helfen kann?”, schnaufte Vedian und deutete auf das Gewehr an ihrem Rücken.

“Ich weiß es nicht”, sagte Vherendie und seufzte. “Aber ich hoffe es.”

“Willst du mir vielleicht verraten, wieso du das glaubst? Es macht mich etwas nervös, dich mit einer Waffe in der Hand zu sehen.”

Schweigend gingen sie an einem Antiquariat vorbei. Bunte Bücher stürzten wie ein gefrorener Wasserfall aus der zerrissenen Wand.

“Ich habe als Kind geschossen“, sagte Vherendie nach ein paar Metern. “Mein Vater hat es mir beigebracht. Ich fand es nur schön, dass er etwas mit mir machte. Dann mussten wir fliehen, und hier in Tharamant gab es keine Möglichkeit mehr…”

“Also, du kannst damit umgehen?”, fragte er.

Sie sah ihn an und nickte.

“Ja, Vedian. Ich kann damit umgehen. Ich hoffe nicht, dass ich es muss. Aber wir leben jetzt leider in einer Welt, in der die Macht bei dem liegt, der die Waffe trägt.”

Vedian’s Stirn schlug Falten. Er sah zur Waffe auf ihrem Rücken, dann zum Bahnhof und schüttelte schließlich den Kopf.

“Klar. Erst war es Geld, jetzt Waffen”, brummte er. “Aber immer noch das Recht des Stärkeren.”

Sie lächelte.

“Ich glaube nicht”, entgegnete sie. “Tharamant ist eine Stadt des Scheins und der Masken. Hier hat nie der Stärkere regiert. Das geht erst jetzt los, doch wenn wir Glück haben, dann müssen wir nur stärker aussehen, als wir tatsächlich sind.”

Sie kamen am letzten Gebäude der Allee vorbei und traten an den Platz heran. An den Stellen, an denen nicht der Dreck unzähliger Schuhe und Stiefel auf dem Boden lag, glänzte das flache Pflaster in der grellen Nachmittagssonne. Niemand machte hier noch sauber; niemanden interessierte es. Ein umgestoßener Obstwagen lag auf seiner Seite, und geflochtene Körbe voller dreckiger Äpfel ergossen sich auf dem Boden. Vherendies Magen knurrte und boxte, aber sie war nicht hungrig genug, um einen von ihnen aufzuheben.

“Sieht so aus, als ob hier nicht so viel heruntergekommen wäre”, sagte Vedian zu ihr. Seine Stimme drang nur schwer durch den Lärm hindurch. “Aber warum warten alle vor dem Eingang?”

Sie antwortete nicht und sah sich um. Hunderte von Menschen raunten wie ein Wasserfall. Sie sprachen, stritten und riefen, weinten und zerrten, schwankten und kreischten. Zitternde Zwillinge klammerten sich an die Beine ihres Vaters. Brüder und Schwestern saßen schweigend und mit leeren Augen auf den Treppen, während eine einzelne, dürre Seele im Schneidersitz auf dem Boden hockte und Tabak in eine lange, dunkle Pfeife stopfte. Irgendwo stritt eine Frau mit einer anderen, und immer wieder stellten sich Menschen auf ihre Zehenspitzen, um über die Köpfe der anderen hinwegzusehen.

Die meisten von ihnen sahen nicht mehr wie die Tharamantiner aus, die Vherendie kannte. Dreck und getrocknetes Blut klebte in ihren Gesichtern, und Haare standen in den wirrsten Formen von den Köpfen ab. An vielen Hemden fehlten Knöpfe, manche vermissten ihre Schuhe, Hosenbeine endeten in der Mitte des Schienbeins, und viele Blusen verdeckten nur noch mit einzelnen Fetzen den Bauch ihrer Trägerinnen, umrandet von losen Schnüren und Fäden. Zwischen den Menschen sah Vherendie einen Mann, der seinen Arm verloren hatte, und in einigen Gesichtern fehlten sogar ganze Augen. Auf vielen Wangen saßen lange, rote Risse, die sich bei einigen Menschen über die Nase bis hin zur Stirn gruben.

Am Rand der Menge blieb Vherendie stehen. Vor ihr redete ein Mann mit einem anderen über das Geld, das sie verloren hatten, und als Vherendie genauer hinsah, konnte sie erkennen, dass er seinen Unterarm mit einem Fetzen verbunden hatte, den er von einem anderen Hemd abgerissen hatte.

“Entschuldigen Sie”, sagte Vherendie und tickte den Mann an der Schulter an. Er drehte sich um. In seinem breiten Gesicht trug er einen Stoppelbart, der so aussah, als ob er das erste Mal in seinem Leben frei wachsen durfte, und er lächelte, als ob er hinter dem Tresen einer Bank stünde und die Katastrophe niemals stattgefunden hätte.

Vherendie nickte ihm zu.

“Warum stehen alle hier? Gibt es keine Züge mehr?”, fragte sie.

“Haben Sie nicht zugehört?”, erwiderte der Mann.

“Wir sind gerade erst angekommen”, fügte Vedian hinzu.

“Na, sagen Sie das doch gleich.” Der Mann riss sein Lächeln in die Höhe. “Wir stehen hier, weil irgendein Pfosten gesagt hat, dass sie die Züge klar machen und uns dann den einzelnen Wagen zuteilen.”

“Irgendein Pfosten?”

“Ja, irgendein alter Mann”, sprach er und stöhnte auf. “Vor etwa einer Stunde haben die… Die Wachen, diese Fremden in den Rüstungen, meine ich, die haben den Platz verlassen, nachdem sie uns so lange hier festgehalten hatten. Muss wohl was mit den fliegenden Viechern am Himmel zu tun haben. Was weiß ich. Jedenfalls haben sie uns hier sitzen lassen, unbewacht. Dann ist der alte Mann mit ein paar bewaffneten Leuten hier hineingehumpelt und blockiert seitdem die Zugänge zu den Gleisen.”

“Bewaffnete Leute?”, fragte Vedian. “Meinen Sie die Stadtwachen?”

Der Mann schüttelte den Kopf, kurz und schnell, sodass die schwabbeligen Wangen dem Rest des Schädels nur schwer folgen konnten.

“Das waren keine Stadtwachen. Die trugen Gewehre, aber die sahen nicht aus wie was von hier oder von den anderen.” Er deutete kurz in Richtung des Stadtkerns. “Schienen aus dem Norden zu kommen, entweder aus Gadagor, vielleicht auch Senev. Ich weiß es nicht.”

“Danke”, sagte Vedian und drehte sich zu Vherendie um. Der Mann nickte und wandte sich wieder seinem vorigen Gesprächspartner zu.

“Hast du das gehört?”, fragte Vherendie.

“Ja, habe ich”, antwortete er. “Bin ja nicht taub. Was machen wir jetzt?”

Sie schüttelte den Kopf, blickte sich um und setzte sich auf den Boden. Ihr Herz klopfte, und ihr Magen brummte. Vedian sah auf sie herab und hob eine seiner Augenbrauen an.

“Glaubst du, dass uns ein Sitzstreik helfen wird, oder was willst du damit erreichen?”

“Sei’ nicht albern. Ich muss nachdenken”, knurrte sie.

Vherendie sah an den Bäuchen und Beinen der Menschen vorbei. Die hohen Gebäude um den Bahnhofsplatz herum hatten ihre sauberen Fassaden behalten. Einige Säulen hatten den Boden getroffen und eine Straßenbahn entgleisen lassen – sie steckte mit der Front in einem Kleidergeschäft für teure Hemden. An ihrer Seite hatte der Unfall ein Stück der Karosserie herausgebrochen, und schwarze Kohlebrocken ergossen sich aus dem Bauch der Bahn auf die Straße.

Ihre Augen wanderten wieder zur Menschenmasse. Dann legte sie ihren Kopf in den Nacken und sah in den Himmel. Ihre Augen folgten dem weißen Schatten, der in der Ferne über die Dächer flog, bevor er wieder zwischen den Häusern verschand. Nur schwach klang sein Schrei zu ihr durch, denn er verschwand beinahe sofort im Raunen, Flüstern und Rufen, das über dem Bahnhofsplatz brodelte.

Vherendie blickte direkt in den hellen, blauen Himmel über ihr und lauschte dem Blut, das ihr Herz in ihren Kopf schlug. Ihre Augenlider wogen schwerer und schwerer mit jeder Sekunde, und bald hatte sie das Gefühl, dass sich die wolkenlose Leere über ihr wie ein Kreisel um die eigene Achse drehte. Der Himmel über ihr wurde dunkler, und der Klang des Bahnhofs verschwand unter dicken Kissen, während Vherendie den Boden unter ihr nicht mehr spürte und zusammen mit dem weißen Schatten in die Lüfte stieg. Seite an Seite stiegen sie in den dunklen, endlosen Himmel auf, bis sie nichts mehr sehen konnte und-

Plötzlich riss sie ihre Augen auf und sah sich um. Sie saß noch immer auf dem Platz, und ihr Herz tobte. Vedian stand noch immer neben ihr, aber er schien dichter an den anderen Menschen auf dem Platz zu stehen als an ihr. Müde stemmte sie ihre Hände auf den Boden, zog die Füße unter ihren Körper und stand auf. Sie streckte ihre Arme in die Höhe, zur Seite, nach vorne und nach hinten, drückte ihre Brust vor und zurück und schüttelte ihre Beine aus. Sie fühlte einen leisen Schwindel, und ihr Magen zog sich zusammen, als ob er seit Tagen nichts mehr gegessen hätte.

Vedian drehte sich zu ihr.

“Vherendie”, sagte er. “Folg’ mir mal. Ich habe gerade jemanden entdeckt.”

Sie nickte und ging ihm hinterher. Der Geruch von Schweiß, Blut und Staub schlug ihnen entgegen. Je näher sie den Bahnhofstreppen kamen, desto dichter wuchs die Menschenmasse, bis es nicht mehr weiter ging. Ellbögen und Hüften schubsten und schaukelten sie umher, und bald hatte Vherendie das Gefühl, ihren Weg nicht mehr selber bestimmen zu können. Eine Brust presste sich an ihren Arm, jemand entschuldigte sich, eine Hand landete an ihrer Schulter und Vherendie klammerte sich fest an die Gurte ihres Rucksacks und des Gewehrs, während sie versuchte, nicht an die Dinge zu denken, die sie unter der Kleidung der anderen Menschen fühlen konnte.

“Was glauben Sie eigentlich, wer Sie sind!”, zeterte eine Frau. Ihr Kleid hing nur noch an einem der beiden dünnen Träger an ihrem Körper. “Sie stellen sich hinten an, wie jeder andere auch!”

“Verzeihung”, grunzte Vedian, ohne sie richtig anzusehen. Er hob seine Hand und rief zu den Treppen hinauf: “Frau Jafkalador! He! Hier unten!”

Vor den Treppen drehte sich eine Frau mit dunklen, klumpigen Haaren um und warf ihren Blick über das Menschenmeer. Vherendie konnte nicht viel von ihrem Gesicht erkennen, glaubte aber, dass es nicht mehr seine natürliche Farbe trug.

“Wer ist das?”, fragte sie.

“Hier unten!”, wiederholte Vedian und winkte mit seiner Hand. Die Frau auf der Treppe kniff ihre Augen zusammen. Als sie in Vedians Richtung starrte, runzelte sie die Stirn; sie sah müde aus, *unglaublich* müde, doch das war bei vielen Menschen hier so.

“Ich bin es, Vedian Bordakane!”, rief er und winkte noch einmal. “Wir haben miteinander gesprochen. Vor ein paar Tagen erst, glaube ich. Habe das Zeitgefühl verloren.”

“Geht’s nicht noch lauter?”, zischte die Frau vor ihm, doch Vedian ignorierte sie.

“Bordakane”, rief die andere Frau von der Treppe herab. “Ich erinnere mich. Warten Sie!”

Mit diesen Worten stieg sie zwischen den drängelnden Menschen hindurch – es schien sehr viel einfacher zu sein, sich von den Treppen zu entfernen, als sich ihnen zu nähern. Sie humpelte und zog unter jedem Schritt ihr Gesicht zusammen, und in ihrer Hand trug sie etwas, das wie ein langer Säbel aussah. Doch es war zu lang, und etwas zu roh, um tatsächlich aus einer Schmiede zu kommen; es sah nicht wie etwas aus, das ein Mensch tatsächlich benutzen sollte.

“Endlich jemand, den ich wenigstens flüchtig kenne”, rief sie ihm zu.

“Folgen Sie uns!”, antwortete Vedian.

Vherendie schlängelte sich hinter Vedian durch die Menschenmenge hindurch, bis sie an den Rand des Bahnhofsplatzes kamen. Hier drehte sich Vedian um und reichte der Frau die Hand.

“Schön, dass Sie es geschafft haben”, sagte er und deutete auf Vherendie. “Das hier ist Vherendie Sela, meine… Meine Mitarbeiterin. Vherendie, das ist Ancardia Jafkalador vom Tagesboten.”

“Freut mich”, sagte Ancardia und schüttelte beide Hände. Sie stank, und Vherendie musste sich anstrengen, nicht plötzlich nach Luft zu schnappen. Ihr müdes Gesicht stand voller Dreck, verlaufener Schminke und anderen Dingen, die sie nicht erklären konnte, während ihre Haare verklebt vom Kopf herabhingen.

“Wissen Sie, was hier vor sich geht?”, fragte Vedian.

“Keine Ahnung”, antwortete Ancardia, und als sie die Schultern anhob, zog der Schmerz durch ihr Gesicht. “Es… Es ist noch nicht so lange her, dass ich hier angekommen bin. Ich will einfach nur noch hier weg, aber oben im Bahnhof stehen Leute mit Waffen. Niemand darf hinein.”

Vherendie deutete auf den übergroßen Säbel, den Ancardia in ihrer Hand hielt.

“Was ist das?”, fragte sie. “Ich habe so etwas noch nie gesehen.”

Ancardia blickte kurz auf die Spitze der Knochensichel, dann zu Vherendie. Ihre Augen glänzten und einen Moment lang glaubte Vherendie, dass sie den Griff des Säbels fester griff, als ob sie sich an etwas klammern musste.

Oder *wollte*.

“Ich auch nicht”, brummte Ancardia und sah zu Vedian. “Nebenbei, all Ihre Theorien scheinen wahr zu sein. Wenn Sie wüssten, was unter der Stadt alles schläft…”

Vedian nickte.

“Das spielt jetzt keine Rolle mehr”, murmelte er. “Mich interessiert eher, warum das hier so lange dauert. Es kann doch nicht so schwer sein, ein paar Züge zu starten.”

Plötzlich knackte etwas in der Luft. Vherendie fuhr herum und suchte den Himmel ab, fand aber nichts. Schließlich brummte ein Ton über den Platz. Er kam vom Eingang des Bahnhofs.

“Achtung, Einwohner von Tharamant”, röhrte jemand. Seine Stimme klang wie ein Ton, der durch eine dürre Blechröhre fuhr, und ihr fehlte jeglicher Bass. “Wir beginnen nun mit dem Beladen der Züge nach Protokoll 71-B-2. Das bedeutet, dass wir Sie nach der Tauglichkeit für einen Rückzug in die Frosthundfeste beurteilen und Ihnen gegebenenfalls einen Platz in den Fluchtfahrzeugen zuweisen.”

Ein neuer Ton brummte aus dem Bahnhof in die Stadt. Er klang höher als der erste. Ancardia stöhnte auf, und Vherendie schloss ihre Augen.

“Sollten Sie keine Tauglichkeit vorweisen können”, fuhr die Stimme fort, “dann müssen wir Sie leider darum bitten, in Tharamant zu bleiben. Entschuldigen Sie die Umstände.”

Es dauerte eine Weile, bis der Ton verschwand. Die Menge raunte, pfiff, schrie und fluchte. Dann hoben die ersten Menschen die Fäuste. Sie drängten auf die Treppen. Ein paar Menschen stolperten, andere rannten an ihnen vorbei und sprangen die Stufen hinauf.

“Es muss doch genug Platz für alle da sein”, murmelte Ancardia. “Wieso wollen die uns sortieren? Das ist doch nicht richtig.”

“Das ist absolut nicht richtig”, sprach Vedian und schüttelte den Kopf. Dann vergrub er sein Gesicht in seinen staubigen Händen. “Viel schlimmer ist jedoch eins: *Ich kenne diese Stimme.*”

“Ich auch”, sagte Vherendie. Sie biss ihre Zähne zusammen und blickte zum Eingang des Bahnhofs. Die Menschenmenge schob sich wie ein gestrandeter Oktopus die Treppe hinauf und zitterte, fluchte und schrie vor den Toren. Die Menschen rissen an den Schultern ihrer Nachbarn und schubsten sich zur Seite. Vherendie fürchtete, dass es nicht mehr lange dauern sollte, bis die ersten Fäuste flogen.

“Passt auf”, zischte sie, und nahm das Gewehr von ihrem Rücken. Ancardia und Vedian fuhren herum. “Ich habe eine Idee, ich brauche eure Hilfe und ihr müsst tun, was ich euch sage, aber ich habe keine Ahnung, ob es funktionieren wird.”

Sie schleuderte ihren Rucksack vom Rücken, öffnete ihn und holte ein langes Messer aus ihm heraus. Vedians Augen weiteten sich vor Schreck, als er es sah.

“Woher hast du das!”, rief er aus. “Nein, was frage ich denn. *Warum* hast du das?!”

“Spielt keine Rolle”, knurrte sie. “Hör’ zu, ich weiß keinen anderen Weg, auf dem die Menschen hier heile herauskommen können. Vertraust du mir, Vedian?”

14: Rückzug

Bit presste seinen Rücken gegen die Wand und sah zur Tür, die offen vor ihm stand. Überall starben seine Männer an einem unbekannten Schrecken, den die rote Bestie ausgespuckt hatte. Schreie schallten aus den Räumen des Hauses.

“Temm, bitte kommen”, zischte Bit, während er auf einen Knopf am Kragen seiner Rüstung drückte. In seiner linken Hand hielt er sein Gewehr und zielte auf die offene Tür vor ihm, und er blinzelte nicht ein einziges Mal. Jederzeit konnte ein Kind der Bestie mit seinem offenen Maul durch die Tür rennen; hier konnte er nicht bleiben.

“Hören Sie zu, Temm!”, rief Bit noch einmal. “Wenn Sie das hören können: Ich befehle den Rückzug aus Tharamant. Geben Sie diesen Befehl weiter an alle Truppen, die Sie erreichen können – ich komme nicht mehr zu allen Soldaten durch, vor allem nicht hier. Ich hoffe, Sie haben mehr Glück. Abzug ist in einer Stunde am Hafen!”

Donner und Schreie jagten durch die engen Gänge des Wohnhauses. Bit hörte, wie sich Klauen und Zähne durch Panzer, Fleisch und Knochen schnitten, wie Kugeln sich in die Wände und in den Boden bohrten, und wie Rüstungen zu Boden schepperten. Sein Herz klopfte, und er klammerte sich an sein Gewehr wie an den letzten Anker, der ihn noch in der Realität hielt.

Es hatte keinen Zweck mehr. Er musste weiter.

Keuchend rannte Bit an blutigen Toten vorbei, ohne nach ihren Speichersteinen zu sehen. Er stolperte durch die nächste Ruine und sprang auf der nächsten Straße in einen Krater hinein. Irgendwo zischte eine Bestie, doch er konnte nicht hören, woher es kam. Er hockte sich hinter einen massiven Eichentisch, der aus einem Wirtshaus in den Krater gefallen war und nun neben ein paar klobigen Stühlen im Dreck lag. Am Himmel flog die rote Bestie und warf ihren breiten Schatten auf die Stadt, und unberechenbar wie ein Blatt im Wind wich sie dem Feuer und den Blitzen aus, die aus den umliegenden Straßen zu ihr hinaufstiegen. Unter ihr sprang eine dunkelblaue Bestie aus dem Häusermeer empor und landete auf dem Dach eines Kontors, und sie zog mit ihrer Vorderklaue einen zappelnden Menschen aus dem Dachfenster, hielt ihn in die Höhe, schnupperte an seinen zappelnden Beinen und warf ihn schließlich in die Straße.

“Temm, bitte melden Sie sich”, rief Bit und stand auf. “Ihre Frequenz ist die einzige, die ich-“

Plötzlich spürte er etwas in seinen Kniekehlen, und er verlor das Gleichgewicht. Sein Kopf stieß gegen den Tisch, und Bit erschrak, als jemand einen starken Arm um seinen Hals legte. Er versuchte, seinen Ellbogen in den Magen des Angreifers zu rammen, doch er konnte nicht genug Schwung aufbauen. Er konnte ihn nicht abschütteln, und die Welt verschwamm vor seinen Augen. Panisch schluckte er nach Luft und atmete den Staub ein, den er mit seinen zappelnden Füßen aufwirbelte. Er hustete und keuchte, und der Arm zog ihn in die Höhe.

Schließlich hörte er den warmen Atem einer Stimme an seinem Ohr, und sie war laut, klar und deutlich, obwohl die Welt im Chaos versank. Ein Schauer jagte über seinen Rücken, als er merkte, dass er diese Stimme kannte.

“Das hier ist für meine Frau, meine Tochter und jeden weiteren Toten von Vuernica”, flüsterte Nesfalador, bevor er die kalte Klinge seines Dolches durch Bits Kehle zog.

15: Geisel

Der blanke Himmel blickte unberührt auf den Bahnhof hinab. Unter den Schreien und Flüchen der Menschen verschwand der Donner, der wie ein Wind aus dem Inneren der Stadt stieg. Die Tharamantiner rissen und zerrten aneinander, schubsten sich gegenseitig zur Seite und rammten ihre Fäuste in diejenigen, die ihnen im Weg standen.

“Wir müssen *jetzt* etwas tun”, klagte Vherendie. Vedian und Ancardia sahen sich nervös um, als suchten sie nach dem Ausgang in einem überfüllten Wirtshaus. “Ich weiß, ich bitte euch um viel. Aber damit diese Menschen eine Chance haben, muss jemand leiden. Und wir müssen etwas tun, das uns noch lange heimsuchen wird. Bitte, vertraut’ mir!”

“Es muss einen anderen Weg geben”, sprach Vedian. Er schüttelte den Kopf und sah zu Boden. “Ich glaube nicht, dass ich das tun kann.”

Vherendie holte tief Luft, legte ihr Gewehr von der rechten in die linke Hand und packte Vedians freie Hand. Als er aufsah, konnte sie direkt in seine weiten, glänzenden Augen blicken. Ihr Herz trommelte.

“Ich auch nicht”, sagte sie, so ruhig, wie sie konnte. “Aber ich vertraue dir. Und ich vertraue den Menschen von Tharamant.”

Er sah zur Seite, dann zu Ancardia, dann wieder zu Vherendie und einmal in den Himmel über sich, dann wieder zum Boden. Vherendie suchte nach seinen Augen, doch er wich ihr aus.

“Was sagst du?”, fragte sie und lehnte sich nach vorne.

Er holte tief Luft und nickte.

“Gib’ mir das Messer”, sprach er. Er atmete schwer, und als Vherendie ihm den Griff des Messers in seine Hand legte, kniff er die Augen zusammen und holte ein letztes Mal tief Luft. Er schloss seine Finger um den Griff.

Vherendie nickte ihm zu und wandte sich Ancardia zu, die mit den Fingern ihrer freien Hand versuchte, den drohenden Schlaf aus ihren Augen zu reiben.

“Frau Jafkalador?”, fragte Vherendie. “Wie sieht es bei Ihnen aus? Sie können jederzeit aussteigen, aber Ihr Säbel könnte uns-“

“Ancardia”, antwortete sie und sah aus müden Augen in die streitende Menge hinein. “Bitte nenn’ mich Ancardia. Wenn wir das durchziehen, dann bitte auf persönlicher Ebene. Ich bin dabei. Ich will nur noch hier weg.”

“Gut. Dann folgt mir und wartet auf mein Zeichen”, sagte Vherendie.

Sie drehte sich um und prüfte die Menge wie ein Wolf, der das schwächste Tier der Herde sucht. Das Gewehr lag fest in ihren Händen, doch ihr Herz trommelte und trommelte, sodass sie die Waffe kaum ruhig halten konnte. Selbst am äußersten Rand der Menge drängten und schubsten die Menschen, ohne ihre Augen vom Bahnhof zu nehmen.

Vherendie sah alte Frauen, die ihre grauen Haare unter Kopftüchern verbargen, Kinder, die an den Händen ihrer Eltern klebten, und Menschen, Frau und Mann, die viel zu viel Masse an den Knochen trugen. Einige trugen ihre Kinder auf den Armen, und viele von ihnen weinten. Vherendie biss die Zähne zusammen. Wann immer sie rote Wangen, raue Schrammen oder tiefe Falten in den Gesichtern sah, spürte sie, wie sich ihr Magen zusammenzog.

Nach einer Weile sah sie ein junges Mädchen mit langen, blonden Haaren am Rand der Menschenmenge. Sie war dünn, beinahe dürr, musste ungefähr vierzehn Jahre alt sein, und in ihrem dunklen Gesicht trug sie große, blaue Augen, die traurig und verloren in die Welt blickten. Von ihren Schultern herab hing ein langes, hellblaues Kleid aus dünnen Stoffbahnen, das ihr die Form eines einsamen Mitternachtsgeistes gab.

Vherendie blieb stehen und schloss für eine Sekunde ihre Augen. Sie holte tief Luft und hob ihr Gewehr. “Es tut mir so Leid”, murmelte sie. Dann sah sie zu Vedian, deutete zum Geistermädchen und rief: “Blond, blau. JETZT!”

Vedian zögerte, doch jeder Schritt schien ihm leichter zu fallen als der vorige. Er sprang die letzten Schritte, und bevor das Mädchen merkte, was passierte, schlang er seine Arme um sie und drückte sie an sich. Er hielt das Messer an ihren dünnen Hals und zog sie von den anderen Menschen weg, die sie erst bemerkten, als sie zu schreien begann. Sie kreischte, schlug mit ihren Armen um sich und versuchte, sich mit ihren zierlichen Füßen am Boden zu halten, während Vedians dicke Arme zitterten und das Messer ihrem Hals näher kam, als Vherendie es gewollt hatte.

“He!”, schrie Vherendie, als ein Mann aus der Menge auf Vedian zuschritt. Sie richtete den Lauf ihres Gewehres auf ihn. “Was denkst du, was hier passiert! Nimm’ Abstand, oder ich schieß’ dir den Kopf weg!”

Der Mann hob seine flachen Hände vor sich und trat zurück. Aus ihren Augenwinkeln konnte Vherendie sehen, dass die anderen Menschen sich umdrehten und einen Schritt zur Seite traten. Neben ihr hielt Ancardia ihren Säbel vor sich wie einen schweren Zweihänder, mit der Spitze nach oben, als wollte sie jeden Moment ausholen. In der Menge verschwammen die Menschen miteinander, und ihre Stimmen wichen den Schreien des Mädchens. Hitze stieg in Vherendies Kopf, ihr Magen fühlte sich an, als ob er ihren Körper verlassen wollte, und ihre Beine zitterten. Sie hoffte, dass es niemand sehen konnte.

“Lasst uns durch, oder ich bring’ sie um!”, brüllte sie so laut, dass es in ihrem Hals kratzte. Sie hielt den Lauf des Gewehrs an die Schläfe des kreischenden Mädchens. “Und wer auch immer mich aufhalten will, ist der nächste!”

Ihr Herz polterte, während sich die Menschen mit weiten Augen gegenseitig anstarrten. Einige erschraken und traten einen oder zwei Schritte zurück, bis die Menge sie auffing. Eine Frau schrie, ein alter Mann hielt die Hände vor den Mund, und jemand brachte zwei prügelnde Männer auseinander. In den meisten Gesichtern stand bleicher Schrecken – der gleiche Schrecken, den sie auf dem Platz vor der Universität gesehen hatte. Vherendie sah die Angst an ihnen zerren, doch die meiste hatte das dürre Mädchen, das Vedian zitternd vor sich hielt. Tränen rannten über ihre Haut.

Schließlich schritten die ersten Menschen zur Seite. Eine ganze Familie trat aus dem Weg, mit gesenkten Köpfen, und Vherendie fühlte, wie etwas nach ihrem Herzen griff: Sie wollte das nicht tun. Sie wollte nicht in der Mitte all dieser Menschen stehen und ein unschuldiges Mädchen bedrohen. Sie wollte-

“So ist es gut! Lasst uns durch!” Ancardia richtete die Säbelspitze auf jeden einzelnen Menschen, den sie passierten, und Vherendie blickte sich zu beiden Seiten um und richtete ihr Gewehr immer wieder auf Leute, die erschrocken ihre Hände hoben.

“Wir gehen in den Bahnhof!”, schrie Vherendie. Ihre Stimme war bald heiser. “Und wir sorgen dafür, dass zuerst die Verletzten und Kranken in die Züge kommen. Wir wollen alle hier raus, aber wir lassen niemanden aus Gadagor darüber bestimmen, wer die Stadt verlassen darf!”

“Grandios”, zischte Vedian, während er versuchte, das Mädchen still zu halten. “Jetzt bringst du auch noch Nationalismus da mit ‘rein.”

Vherendie schnaufte und sah für eine Sekunde zu ihm hinüber. Das Mädchen wimmerte und griff nur noch selten mit ihren Händen nach Vedian – sie hatte den Kampf aufgegeben.

“Richtig so!”, rief ein Mann von der linken Seite der Treppe.

“Ich bin verletzt! Ich brauche Hilfe!”, schrie ein anderer.

“Wer glaubt ihr eigentlich, wer ihr seid!?”, rief eine Frau.

“Warum lasst ihr sie durch?”, fragte eine andere. “Haltet sie auf!”

Die Menge raunte und flüsterte. Vor Vherendie, Vedian und Ancardia teilte sie sich, um die drei auf die Treppe steigen zu lassen.

“Die wollen uns helfen, Mann!”, brüllte eine Frau hinter ihnen.

“Ach was!”, entgegnete ein Mann am Fuß der Treppe. “Die wollen nur zuerst im Zug sein und ohne uns fahren!”

“Die können uns nicht alle aufhalten! Tut doch was!”

“Genau, richtig. Nachdem wir den Krieg überstanden haben, sollen wir uns jetzt gegenseitig töten? Lasst sie durch!”

Vherendies Augen huschten von einem Gesicht zum nächsten. Wut, Trauer, Angst, Abscheu und Hass brannte in ihnen, und Vherendie biss ihre Zähne zusammen. Ihr Herz klopfte, und jeden Moment rechnete sie mit einer Hand, die ihr Gewehr packte, oder einer Faust, die auf sie zuraste. Doch niemand wagte es, die drei bewaffneten Irren aufzuhalten. Niemand ging den ersten Schritt; niemand versperrte ihnen den Weg, und Vherendie wusste nicht mehr, ob sie das erwartet oder gehofft hatte. Sie kannte die Menschen von Tharamant, und sie wusste, dass sie sich gerne hinter Masken und Wörtern versteckten; doch sie wusste nicht, wie lange es dauerte, bis sie diese fallen ließen.

Als sie über die letzten Stufen stieg, sah sie zum Eingang. Die schweren, stählernen Bahnhofstüren standen weit offen und zeigten eine leere Halle, in der das Licht aus einem Loch in der Decke auf helle, flache Fliesen schien. Zeitungen lagen wie kleine Decken auf dem Boden, und in der Mitte steckten Steine, die aus dem Dach gebrochen waren.

“Was geht da vor sich?”, rief jemand aus der Halle. Vherendie erschrak, richtete ihr Gewehr nach vorne und hoffte, alle bewaffneten Männer und Frauen im Blick zu haben, die ihr gegenüberstanden. Sie trugen die gleichen zerrissenen Kleider wie die Menschen am Eingang – blaue, rote, grüne und goldene Fetzen, Hemden und Hosen mit faserigen Löchern und Jacken mit aufgescheuerten Ärmeln, Stiefel, an denen sich flatternde Sohlen lösten. Jeder von ihnen trug eine Waffe in den Händen, die Vherendie sofort erkannte – es waren Gewehre wie das, in dessen Lauf sie vor einigen Stunden gesehen hatte.

Zwischen den Zivilsoldaten stand ein Mitglied der Stadtwachen. Sein weißes Gewand war grau vom Staub, und blutige Flecken färbten rotbraune Muster in den dünnen Stoff. Am Boden schwang der ausgefranste Rand, der bei jedem Schritt ein paar lose Nähte durch den Staub auf den Fliesen zog.

“Was geht da vor sich? Was soll das?”, rief die Stadtwache. Er zielte auf Vherendie, dann auf Ancardia, dann auf Vedian, der sich hinter dem weinenden Mädchen verbarg und das Messer etwas näher an ihren Hals hielt. “Bleibt zurück, oder wir schießen!”

“Das tut ihr nicht!”, antwortete Vherendie. Nur mit Mühe stieß sie die Worte durch ihren trockenen Hals. “Wenn ich auch nur einen von euch zucken sehe, dann wird diese Frau sterben!”

Die Wache senkte das Gewehr, und Vherendie sah, wie Vedian seinen Griff um den Hals des Mädchens lockerte. *Nein*, dachte sie und spürte ihr Herz in ihrer Brust trommeln. *Nicht lockern. Nicht sicher fühlen. Noch nicht.*

Die Menschen hinter ihr erhoben ihre Stimmen wie ein Sturm, der an einem grauen Horizont auf den Wind wartet, der ihn zur Küste bläst – doch der Wind kam nicht. Niemand wagte es, den Bahnhof zu betreten, aber Vherendie glaubte, tausend Blicke in ihrem Rücken zu spüren: Die Männer, Frauen und Kinder von Tharamant warteten mit riesigen Augen darauf, dass dieses Treffen auf die eine oder andere Art endete.

“Mach’ schnell”, brummte Ancardia neben ihr. “Die werden unruhig.”

“Was hat er euch versprochen?”, rief Vherendie der Stadtwache zu. “Einen Platz im Zug? Ihr solltet wissen, dass euch das nicht zusteht. Wir müssen zuerst die Verletzten aus der Stadt schaffen. Sie brauchen Hilfe, die wir ihnen in dieser Stadt nicht geben können.”

“Ich bin verletzt”, rief ein Mann an der linken Seite. Er senkte sein Gewehr und hob die Hand. Sein rechtes Auge lag unter einem schwammigen, roten Fleck auf einem weißen Verband, der beinahe die ganze rechte Seite seines Schädels umwickelte.

“Ich rede hier! Und du hast deinen Platz sicher, Darav!”, brüllte die Stadtwache. Dann senkte sie die Stimme und sah Vherendie aus kleinen Augen an. “Nein. Wir brauchen nur die besten, stärksten, klügsten Männer und Frauen, um eine Chance gegen weitere Invasionen zu haben. Wir können es uns nicht erlauben, die Schwachen aus der Stadt zu schaffen, während alle nützlichen Kräfte hier sterben!”

“Bei Andalor, das klingt genau wie Von Trinitas”, sprach Vedian. Vherendie fragte sich, wie der alte Mann den Angriff überlebt hatte; und wie er es geschafft hatte, eine Wachtruppe aufzustellen, um den Bahnhof in seine Kontrolle bringen zu können.

Das Mädchen schrie.

“Niemand weiß, was nach dieser Invasion geschieht”, rief Vherendie. Ihre Stimme klang etwas fester in ihren Ohren als noch vorher. “Niemand weiß, ob wir nur die tüchtigsten Menschen brauchen. Aber ich weiß, dass ich nicht selber in einem Wagen sitzen kann, während ein Mann ohne Bein da draußen steht und das Chaos in der Stadt keinen weiteren Tag überleben wird. Und nicht nur das. Da draußen stehen Kinder. Mit ihren Müttern. Und Vätern.”

“Sie hat Recht-“

“HALT DIE KLAPPE, DARAV!”, brüllte die Stadtwache erneut und hob die Waffe. Schweiß glänzte auf der Haut des Mannes, und seine Zähne blitzten.

“Ich bitte Sie!”, rief Vherendie ihm zu. “Wir können keine Familien auseinanderreißen, nur weil wir die Mutter gebrauchen können, aber nicht den Vater und die Kinder. Ich kann es nicht. Und Sie können es auch nicht.”

“Natürlich kann ich das”, zischte die Stadtwache. “Und Sie sollten sich vielleicht ein Beispiel an Ihrer eigenen Rede nehmen und das Mädchen freilassen, dessen Leben Sie bedrohen!”

“Ich habe meine Eltern verloren”, sprach Vherendie. “Sie liegen unter den Trümmern des Hauses, in dem sie mich aufgezogen haben. Und ich bin nicht der einzige in dieser Stadt, der geliebte Menschen verloren hat. Verstehen Sie das?”

“Kommen Sie mir nicht über die Gefühlsschiene”, greinte die Stadtwache und blickte zwischen Vedian, dem Mädchen, Ancardia und Vherendie hin- und her. Vherendie versuchte, ruhig zu atmen.

“Hören Sie zu”, sagte sie. “Ich will nicht, dass jemand noch mehr verliert, als er schon verloren hat. Und Sie wollen das auch nicht – das kann ich in Ihren Augen sehen. Und darum bitte ich Sie: Lassen Sie die Menschen zu den Zügen. Verletzte, Kinder, Familien zuerst.

Sie sah zu Vedian und nickte ihm zu.

“Vedian, lass’ sie frei.”

Vedian ließ das Messer fallen und trat einen Schritt zurück. Das Mädchen fiel vor ihm auf dem Boden.Vherendie konnte nicht hören, ob sie aus Glück oder aus Angst schluchzte.

Dann ließ sie ihr Gewehr fallen. Es schlug hohl und dumpf auf den starren Boden, und für eine Sekunde lauschte sie. Dann trat sie es von sich weg, und es schlitterte ein paar Meter über den Boden. Hinter ihr schwieg die Menge. Für ein paar Sekunden klangen nur die Tränen des Mädchens durch die Bahnhofshalle. Die Stadtwache vor ihnen zitterte und hob ihr Gewehr, senkte es, hob es wieder, und warf es dann zu Boden.

“Lassen wir die Leute zu den Zügen”, sagte er zu den anderen und schüttelte den Kopf. “Ich hab’ mal vor Jahren geschworen, die Leute dieser Stadt zu schützen, und das sollte ich nicht für einen Affen aus Gadagor verraten. Scheiße. Ich hoffe, wir tun das Richtige. “

Noch während er die Worte aussprach, spürte Vherendie, wie sich die Muskeln in ihrem ganzen Körper entspannten. Sie atmete tief durch und hielt ihre Hände an die Stirn. Schweiß klebte auf ihrer Haut, und sie wischte ihn an ihrem Hosenbein ab.

“SIE!”

Vherendie erschrak und sah zur Seite. Aus dem rechten Teil der Halle humpelte ein alter Mann herbei. Er trug einen Gehstock in seiner Hand, und sein graues Haar lag wild durcheinander. Sein grünes Gewand war an den Ärmeln zerrissen, und ein paar Goldfäden hingen aus ihm hinaus. Der Stock, auf den er sich stützte, bog sich unter jedem seiner Schritte.

“SIE!”, rief er mit seiner rauhen, dunklen Stimme. Er zeigte mit seinem Stock auf Vedian. “SIE machen alles kaputt! Halten Sie sich aus diesen Angelegenheiten heraus!”

Vedian schreckte zurück.

“Was? Ich habe nichts -“

“SIE haben keine Ahnung davon, was passieren wird!”, keifte Trinitas und starrte ihn aus kleinen, wütenden Augen an. “Sie haben keine Ahnung davon, welche Menschen wir brauchen werden! Sie haben kein Recht, einfach alles und jeden passieren zu lassen!”

Vedian verdrehte die Augen. Vherendie sah zwischen den beiden hin- und her, und Ancardia starrte ihn mit zusammengekniffenen Augen an.

“Wer ist der Mann?”

“Das… Das ist Kilionor van Trinitas”, stammelte Vedian und kratzte sich am Hinterkopf. “Wissenschaftler. Historiker, einer meiner schärfsten Kritiker. Trinitas, das ist Ancardia Jafkalador, Journ-“

“Ach, hören Sie auf!” Trinitas winkte ab. Die Wutfalten auf seiner Stirn zogen sich eng zusammen. “Sie haben unsere Überlebenschancen entschieden gemindert, weil wir jetzt die ganzen Kranken, Verletzten, Alten und Kinder versorgen müssen. Wir können uns das nicht leisten! Die Invasoren werden weiterziehen – nach Diamant, Antodun, Gadagor, und Senev (obwohl die es verdient hätten), Deronor, Vherenhelm, bis hin nach Nortgrenz und Frostheim! Wir werden das nicht überleben, wenn wir Krüppel mitschleppen und ernähren müssen!”

Vherendie blickte auf den Stock, mit dem Trinitas bei jeder Silbe auf den Boden pochte. Ihr Herz klopfte höher, und die Wut in ihr zog ihre Hände zu Fäusten zusammen. Sie warf eine Blick auf das Gewehr, das sie zu Boden geworfen hatte. Es lag direkt neben den Füßen von Trinitas.

“Halten Sie die Klappe”, zischte Vedian zwischen seinen Zähnen hervor. Das Licht, das durch die Decke fiel, spiegelte sich auf seiner Stirn. “Wir haben nur das getan, was-“

“NEIN, SIE HALTEN DIE KLAPPE!”, schrie Trinitas. “Wissen Sie eigentlich, was Sie getan haben?!”

“Den Menschen eine Chance gegeben, selber zu entscheiden”, antwortete Vherendie und trat an Vedians Seite. “So leben wir nämlich in Tharamant.”

Trinitas blickte auf Vherendie herab und schnaufte.

“Frau Sela. Dass Bordakane nicht sonderlich vorausschauend ist, konnte ich mir denken”, sprach er. Sein Fuß stieß an das Gewehr, das auf dem Boden lag, und für eine Sekunde wanderte sein Blick zu ihm hinab. Er schien einen Moment zu überlegen. “Aber von Ihnen habe ich mehr erwartet!”

“Was soll ich sagen”, warf ihm Vherendie entgegen und hob die Schultern. Sie ließ ihren Blick nicht von dem Gewehr und spürte, wie sie ihre Hände ballte.

“Hören Sie”, sagte Vedian. “Die Menschen haben in diesen zwei Tagen genug erleiden müssen. Der Angriff hat Familien auseinander gerissen – unter anderem auch die von Vherendie.”

“Und meine”, warf Ancardia ein. Trinitas verdrehte die Augen und schüttelte den Kopf.

“Jeder in dieser Stadt hat etwas verloren”, fuhr Vherendie mit lauter Stimme fort. “Kinder, Ehepartner, Wohnung, Arbeit, Erinnerungen. Wir haben uns entschieden, dass wir nicht noch mehr verlieren wollen. Vielmehr noch: Wir können es einfach nicht.”

“Denken Sie doch mal nach, Sie Idiot”, zischte Trinitas ihr entgegen. “Das persönliche Leid der Menschen in Tharamant hat doch überhaupt keine Relevanz für das, was wir tun müssen!”

“Ich weiß”, antwortete sie und nahm ihren Blick vom Gewehr, um direkt in die wütenden Augen zu sehen. “Aber was Sie für relevant halten, interessiert mich nicht mehr, und die Menschen dieser Stadt sollte es auch nicht interessieren.”

In diesem Moment warf der alte Mann seinen Gehstock zur Seite und krümmte sich zu Boden. Mit starren Händen griff er nach dem Gewehr und legte an, während die Stadtwache und die anderen Menschen nach ihren Waffen griffen. Trinitas zielte direkt auf Vherendie und legte den Finger an den Abzug.

“Lassen Sie die Waffe fallen, Trinitas!”, brüllte die Stadtwache, als sie ihr eigenes Gewehr vom Boden aufgehoben hatte.

Trinitas rührte sich nicht. Und auch Vherendie tat es nicht.

“Tun Sie, was der Mann sagt”, sprach sie und lächelte. “Oder machen Sie sich zum Idioten, vor all diesen Leuten hier. Los. Tun Sie es. Erschießen Sie mich.”

Der alte Mann verkleinerte seine Augen, sah über die Spitze des Laufs hinweg und zog am Abzug. Etwas in der Kammer klickte, hohl und leer, und das Echo hallte durch den ganzen Bahnhof. Trinitas nahm das Gewehr hinunter und legte die Stirn in Falten, dann weiteten sich seine Augen.

“Wenn es Ihnen nichts ausmacht”, sprach Vherendie, “dann lassen Sie jetzt die Menschen in den Bahnhof und zu den Zügen. Wir sind hier fertig.”

Nach diesen Worten drehte sich Vherendie um und winkte den Menschen am Eingang zu. Die Stadtwache kam zu ihr und rief sie hinein, und als die ersten Menschen an ihr vorbeirannten, atmete Vherendie tief aus- und ein. Sie ballte ihre Hände zu kleinen Fäusten und öffnete sie, immer und immer wieder, um nicht zu vergessen, dass sie noch immer auf dem Boden Tharamants stand. Ihr Kopf zeigte ihr ein Bild nach dem anderen: Bilder von der Menschenmenge, die hinter ihr in die Halle stürmte; von den hasserfüllten Gesichtern, die ihr den Tod gewünscht hatten, als sie noch unten auf dem Platz gestanden hatte; von dem jungen Mädchen, das sie benutzt hatte; und dann von ihren Eltern, die friedlich in ihrem Bett schliefen, für immer und bis ans Ende aller Tage.

Zitternd sah sie zum blaublonden Mädchen hinüber. Sie kreuzte ihre dürren Arme übereinander und hielt sich an ihren eigenen Schultern fest. Sie krümmte sich bei jedem Schluchzer wie in einem Krampf nach vorne, und die riesigen Augen in ihrem roten Gesicht quollen beinahe aus ihren wimmernden Augenlidern hervor. Als ihr jemand die Hand auf den Rücken legen wollte, schlug sie diese bei Seite und weinte nur noch stärker.

Für einen Moment schloss Vherendie ihre Augen und lauschte dem Klang der Stiefel, die an ihr vorbei durch die Halle humpelten. Sie sank zu Boden, fiel auf ihre Knie und schnappte nach Luft. Tränen sammelten sich in ihren Augen, und sie musste ihre Brille abnehmen, um sie mit den Fingern herauszuwischen. Doch es waren zu viele, und es kamen immer mehr, und sie wusste nicht mehr, ob das, was sie getan hatte, richtig oder falsch gewesen war.

17: Abschied

Vherendie spürte eine Hand auf ihrer Schulter und erschrak. Als sie nach oben blickte, sah sie schwarze, verklebte Haare und ein dunkles Gesicht, in dem viel zu viel Schmutz klebte.

“Alles geschafft”, sagte Ancardia und lächelte. “Wir können die Stadt verlassen. Wir alle.”

“Wenn genug Züge da sind”, murmelte Vherendie und stand auf. Sofort sah sie sich um und suchte nach dem weinenden Mädchen, doch es war verschwunden. Ihr Magen zog sich zusammen.

Sie setzte ihre Brille auf und sah Vedian, der vor ihr stand. Er zitterte und keuchte, und in seinen Augen spiegelte sich nichts mehr. Um sie herum zogen die Menschen ihre Taschen hinter sich her und trugen Kinder auf Schultern und Händen. Sie lagen sich in den Armen, und an den Treppen sah sie zwei Männer, die eine Frau ohne Beine in den Bahnhof trugen.

Immer wieder trafen sie die Blicke der Menschen. Manche dankten ihr mit einem Blick. Manche starrten, als ob sie eine gefährliche Krankheit mit sich trug, und wieder andere wollten ihr die Hand geben. In einigen Augen sah Vherendie Tränen, und sie wusste nicht, warum die Menschen weinten. Sie sah weder Glück noch Trauer in ihren Augen, keine Freude, keine Angst. Sie sah gar nichts mehr.

“Was habe ich getan”, murmelte sie und hielt ihre Hand gegen die Stirn. “Was habe ich nur getan.”

“Es war richtig”, sprach Ancardia.

“Ich weiß gar nichts mehr”, murmelte Vedian und wischte sich mit seinem Ärmel den Schweiß aus seinem Gesicht. “Das hätte nicht funktionieren dürfen. Es hätte so viel passieren können. Deine Waffe war noch nicht einmal geladen. Die hätten uns mit bloßen Händen zerfleischen können, wenn sie gewollt hätten.”

“Wollten sie aber nicht”, sagte Vherendie und atmete tief durch. “Unser Glück. Lasst uns gehen.” Sie kratzte sie sich am Kopf. Der Riss in ihrem Brillenglas hing wie ein dünner Faden in ihrem Sichtfeld, und die Welt verschwamm manchmal vor ihren Augen.

Zusammen folgten sie dem schlurfenden Strom zu den Treppen, die zu den Gleisen führten. Ein Paar humpelte mit gesenkten Köpfen an ihr vorbei; einer stützte den anderen, und so bewegten sie sich wie ein einzelnes, verletztes Tier.

“Ich weiß selber nicht, was über mich gekommen ist”, sprach Vherendie und drehte sich zu Vedian um. “Ich will nicht darüber reden. Gehen wir zu den Zügen. Frau Jafkalador ist verletzt, wie es aussieht.”

“Ich kann noch gehen. Außerdem heiße ich Ancardia, nicht ‘Frau Jafkalador’. Ich dachte, das hätten wir geklärt.” Sie ließ das Knochenschwert über den Boden schleifen und zog es hinter sich her, als ob sie Pflug in der Hand hielte.

“Machen Sie keine Witze”, entgegnete Vherendie und wog ihren Kopf hin- und her. “Wer weiß, welche Krankheiten in dieser neuen Welt lauern.”

“Oh, du hast *keine* Ahnung”, murmelte Ancardia, während sie eine Augenbraue hob und den Kopf schüttelte.

Vherendie folgte den anderen Menschen zu den Treppen, die auf die verschiedenen Gleise führten. Hier humpelte der Strom die Stufen empor, und schon am Fuß konnte Vherendie die fauchenden Dampflokomotiven hören, die an den Bahnsteigen warteten. Ein Mann mit blauer Latzhose rannte die Treppen hinab und drängelte sich durch die Menschen. Sein Gesicht und seine Arme waren schwarz von Kohle, und auf halbem Wege drehte er sich um, weil ihm jemand von der obersten Stufe zurief. Vherendie konnte nicht hören, was ihm die Frau mit dem Werkzeugkoffer an der Spitze der Treppe zurief, aber es schien etwas mit den Lokomotiven und den Kupplungen der Waggons zu tun zu haben.

Die Abendsonne drang in den Bahnhof und tauchte die Menschen in ein Licht, das wie aus einer anderen Welt zu kommen schien. Vherendies Herz klopfte, als Vedian ihre Hand nahm und sie anlächelte; und sie wusste, dass er nicht nach ihrer Hand griff, weil sie fliehen mussten und sich nicht verlieren wollten, wie in den letzten Tagen; sondern weil er ihre Hand spüren wollte. Weil er bei ihr sein wollte.

Sie sah zur Seite und zog ihre Hand von ihm weg. Überall drängelten sich Menschen vor die Türen zu den Waggons. Die Unverwundeten halfen den Verletzten und Schwachen beim Einsteigen oder verluden schwere Taschen mit dem letzten Besitz, den sie aus den Ruinen gerettet hatten. Erst jetzt sah Vherendie, dass hinter einigen Lokomotiven keine Personenwagen, sondern klobige, rechteckige Frachtwaggons standen. Auch hier stiegen die Menschen ein, und als Vherendie in einen der Wagen hineinsehen konnte, sah sie, wie sie sich dicht an dicht auf den Boden im Wagen setzten.

Zusammen mit Vedian und Ancardia ging sie an den Menschen vorbei. Zwischen den Köpfen der Flüchtlinge ragten die Dampflokomotiven auf den Gleisen wie schwarze Monster hervor. Schwarzer Rauch stieg aus ihren Schloten. Das Licht der untergehenden Abendsonne fiel zwischen den Stahlträgern hindurch, die das Bogendach des Bahnhofs über den Gleisen hielten; und zwischen ihnen standen ein paar einzelne Marmorstatuen, bunt bemalt, als wären sie ein halbherziger Versuch, dem Bahnhof etwas Farbe zu verleihen.

Sie näherte sich einem der hinteren Waggons, als ein alter, dicker Mann mit staubgrauem Arztkittel an sie herantrat. Aus seiner Brusttasche ragten eine Brille mit einem zerbrochenem Glas und ein paar Stifte heraus. In eiligen Schritten rannte er auf Ancardia zu.

“Bei Andalor, wie können Sie denn so herumlaufen!”, rief er aus, packte Ancardias Schulter und warf einen erschrockenen Blick auf die offene Wunde an ihrem Rücken. “Wir müssen Sie so schnell wie möglich behandeln, das wird Sie sonst umbringen!”

Ancardia nickte und lächelte, ohne ein Wort zu sagen. Sie sah aus, als ob ihr jeden Moment die Augen zufallen wollten.

“Damit haben Sie ihren Sitz im Zug wohl sicher”, sprach der Arzt. “Melden Sie sich sofort am Ende des Zugs. Im letzten Wagen bauen wir gerade eine Notfallstation, in der wir die schlimmsten Fälle behandeln.”

“Mein Freund hat einen Splitter in seinem Bauch”, sagte Vherendie und zog am Ärmel der, vom Arm des Arztes herunterflatterte. “Vermutlich Metall. Er hat sich gewehrt, als ich ihm die Kugel aus seinem Bauchspeck holen wollte, weil er ein Idiot ist, aber ich konnte ihm wenigstens den Bauch verbinden.”

“Ich habe keinen Splitter in-“, murmelte Vedian, doch bevor er ausreden konnte, hatte der Arzt schon sein Hemd gehoben und den Verband im Auge, den Vherendie gelegt hatte.

“Vermutlich nicht zu schwer, die Verletzung. Trotzdem, sicherheitshalber, letzter Wagen, damit wir das Ding da rausholen können”, entgegnete der Arzt und verschwand zwischen den Menschen hinter Vherendie. Als sie am Ende des Zuges ankam, kam ihr sofort ein junger Mann entgegen, der einen Stift und ein Klemmbrett in seinen Händen trug. Die Blätter auf dem Brett flatterten bei jedem Schritt, den er ging.

“Wir haben zwei Verletzte und sollen uns hier melden”, sagte Vherendie. Der Mann winkte, nahm den Stift und schrieb auf dem Blatt.

“Ist schon gut”, sagte er, während er schrieb. “Ich habe Sie eben schon gesehen, als sie mit meinem Kollegen gesprochen haben. Steigen Sie ein.”

“Sehr gut”, entgegnete Vherendie. “Wann fahren Sie?”

Der Arzt griff in seine Tasche. Als er sie wieder heraus holte, blitzte etwas in seiner Hand auf: Eine Taschenuhr.

“Fünfundzwanzig Minuten, der erste. Die anderen jeweils zehn Minuten danach, wenn sich nichts geändert hat.” Er steckte die Uhr wieder in seine Tasche, schob sich an Ancardia vorbei und wandte sich dem nächsten Verletzten zu.

Dieses Mal griff Vherendie nach Vedians Hand. Sie hielt ihn fest und glaubte, seinen Puls spüren zu können: Schnell und aufgeregt klopfte er. Ihre Augen waren weit, und sie hoffte, dass sie sich hinter ihren Brillengläsern verstecken konnten. Sie wollte ihm keine falschen Ideen geben.

Hand in Hand standen sie vor dem Waggon und sahen zu Ancardia, die auf die Stufen des Wagens stieg. Zwei Männer wollten ihr helfen, doch sie stieß die beiden zur Seite.

“Ich brauche keine Hilfe”, zischte sie. “Ich bin alleine aus der Kanalisation geklettert. Die drei Stufen nehme ich auch noch.”

Vherendie sah Vedian in die Augen.

“Du solltest nun einsteigen”, sagte sie. “Versprich mir, dass du dir helfen lässt und auf dich aufpasst, denn ich… Ich werde dir nicht helfen können.”

Vedian runzelte die Stirn. Sein Mund öffnete sich, doch er schaffte es nicht, etwas zu sagen. Plötzlich waren seine Hände sehr viel weicher, und es war nicht sein Herz, das sie hörte, sondern ihr eigenes. Sie streichelte mit ihrem Daumen über seinen Handrücken.

“Sag’ jetzt nichts, Vedian”, sprach sie und blickte am Zug entlang. “Sieh’ dir all die Menschen an, die hier bleiben werden. Sie alle müssen irgendwie die Stadt verlassen, und ich will ihnen dabei helfen.”

“Du kannst mit an Bord kommen. Ich will dich mitnehmen”, murmelte Vedian, doch die Worte mochten nicht wirklich laut über seine Lippen fließen. Sie nahm ihn in den Arm und spürte die Wärme, die von ihm ausging. Sie drückte ihn an sich.

“Ich weiß”, sagte sie. Für einen Moment sah sie die Waggons an. “Aber mein Leben ist viel zu lange auf Schienen gefahren, die ich nicht selber legen durfte.”

“Du wolltest niemals wirklich gehen, oder?”, fragte er, und sie spürte ihn zittern. “Ich muss nicht in diesen Zug. Wer weiß überhaupt, ob die Schienen den Angriff überstanden haben. Vielleicht schaffen die Züge es nicht einmal aus der Stadt… “

Sie streichelte mit ihrer Hand über seinen Rücken und hob ihren Kopf.

“Ich möchte, dass du in Sicherheit bist”, flüsterte sie. “Darum musst du fahren. Ich könnte es mir nicht verzeihen, wenn dir hier etwas passieren würde, nur weil mein sturer Kopf diese Stadt noch nicht verlassen will.”

Sie nahm ihre Hände von ihm und trat einen Schritt zurück. Vedian blickte zu Boden, und sie vermutete, dass er das tat, um seine Tränen zu verbergen.

“Ich verstehe es, aber ich will es nicht”, sagte er. “Wir haben so viel Zeit hier zusammen verbracht.”

“Ich weiß”, sagte sie und lächelte. “Aber wie hieß es noch einmal in dem alten Lied? *’Geboren, um alleine zu ziehen, niemals zurückzukehren.’* Was geschehen ist, ist geschehen. Dieses Kapitel ist zu Ende.”

Er sah zur Seite und kniff seine Lippen zusammen, als ob er die Wörter einsperren wollte, die sich einen Weg durch seine Kehle bahnen wollten. Doch er schaffte es nicht. Er vergrub seine Stirn in den Händen und wischte mit den Fingern die Tränen aus seinen Augen.

“Und nichts ist mehr wie früher”, fügte er hinzu, und sie glaubte, ihn lächeln zu sehen. “Oh, wie ich diese neue Welt hasse.”

Sie lachte kurz und stieß ihn an seiner Schulter an.

“Du wirst es schon schaffen”, sprach sie. “Auch ohne mich.”

“Werde ich dich wiedersehen?”

Sie schüttelte langsam den Kopf und sah zu den anderen Wagen hinüber, dann zum Himmel, der außerhalb des Bahnhofs hell leuchtete. Die Nachmittagssonne neigte sich zum Abend hin, und Vherendie malte sich bereits die Farben aus, die in wenigen Stunden über der Stadt erscheinen sollten. Leere, endlose Klänge stießen in ihre Ohren, wie aus Musikinstrumenten, die in einem Konzertsaal in weiter Ferne spielten, und irgendwo hörte sie das Meer rauschen, das ein uraltes Lied in seinen Wellen trug.

“Vedian”, sagte sie und drehte sich zur Sonne, die über einem Tümpel aus zerstörten Träumen stand. “Warte nicht auf mich. Sieh’ dir den Himmel an – sieh’ dir an, wie blau und hell er ist.”

Er drehte sich zur Seite. Ein letztes Mal nahm Vherendie seine Hand und drückte sie. Der Wind zog durch die Stahlträger und wehte kühl durch ihre Haare.

“Der Himmel ist hell, und die Finsternis, die auf der Welt liegt, interessiert ihn nicht. Die Unendlichkeit interessiert sich nicht für diese zwei Tage in der Geschichte von Tharamant. Das alles klingt hoffnungslos, und ich glaube auch, das ist der Grund, warum die Freikünstler dieses eine Lied sangen.”

Vedian nickte und sah in den Himmel.

“Doch sie sangen auch etwas anderes”, sprach sie. “Das vergessen wir oft, weil wir uns immer nur an die finsteren Momente erinnern wollen. Sie sangen eine ganze Reihe an Liedern, die uns helfen können, mit der Finsternis fertig zu werden und zu genießen, dass wir in diesem Moment am Leben sind und die Welt erleben dürfen – wie lange es auch dauern mag.”

Vedian drehte sich zu ihr um, und ein Stich ging durch ihr Herz, als sie ihn ansah.

“Sie sangen unter anderem *’Lache, liebe, lebe, lerne’*, und ich möchte, dass du dir das zu Herzen nimmst”, sagte sie und sah fest in seine Augen. “Es war schön mit dir. Lache, liebe, lebe und lerne, und fürchte dich nicht davor, Vedian.”

18: Ausblick

Die Nacht drang dunkelblau in den Waggon und traf dort auf das Licht einiger Kerzen, die in hohen Gläsern an den Wänden hingen. Unter ihnen rauschten die schweren Räder des Wagens auf den starren Schienen, und der Blick aus dem Fenster zeigte Wiesen und Felder, die unter einem silbernen Mond schliefen.

Ancardia richtete sich auf. Ihr Rücken tat noch immer weh – die Bisswunden glühten, und wenn sie versuchte, ihre Arme zu strecken, schlichen weitere Schmerzen durch ihre Schultern. Es reichte schon, die Finger zu strecken. In den Adern ihrer Beinen pulsierte das Blut, und die Müdigkeit war noch immer nicht verschwunden.

Sie erinnerte sich: Sie lag in einem Bett in einem Schlafwagen. Auf dem Bett über ihr lag ein weiterer Flüchtling aus Tharamant, eine alte Frau; und ihr gegenüber lag Vedian im unteren der beiden Betten und las in einem dicken Buch. Seine Beine lagen unter einer weißen Decke, und zwischen seinen Fingern steckte eine Zigarette, die zur Hälfte abgebrannt war.

Ancardia spürte zu viel Wärme unter ihrer Decke, und als sie diese zur Seite schob, fiel ihr auf, dass sie neue Kleider trug – ein dünnes, weißes Nachthemd. Die kühle Luft aus dem Abteil drang zwischen ihre Haut und den Stoff und kühlte den Schweiß, der sich auf ihr sammelte.

“Jemand hat mich gewaschen”, murmelte sie.

“Ah. Sie sind wach”, sagte eine Stimme neben ihr. Sie sah hinüber – auch Vedian trug eins der weißen Nachthemden. Sie konnte den Titel des Buches, in dem er las, nicht erkennen. Irgendeine alte Schrift. Seine Augen wanderten stetig von links nach rechts, von oben nach unten.

“Das bin ich wohl”, antwortete sie. “Wie lange sind wir schon unterwegs? Haben wir Tharamant verlassen?”

Vedian blätterte um, knickte die obere Ecke der Seite um und legte das Buch auf die Decke. Dann zog er an der Zigarette. Ihre Spitze glühte kurz auf.

“Sie haben sehr laut geschrien”, sagte er und lehnte sich an die Wand hinter ihm. Sie spürte den Zug an ihr rütteln. “Als die sich um Ihre Wunden gekümmert und Sie gewaschen haben, im Speisewagen.”

“Im… Im Speisewagen?”, fragte sie und riss die Augen auf. Dann fiel es ihr wieder ein. “Natürlich. Klar. Der ganze Tisch hat gewackelt, und die Ärzte konnten mich nicht betäuben, als sie mir die Wunden zugenäht haben. Ich habe gedacht, ich müsste nun doch sterben. Sie… Sie haben irgendwas aus mir herausgeholt.”

“Ja, ich war dabei”, sagte er. “Auf einem anderen Tisch. Für mich war es harmlos. Sie haben jedoch bestimmt Schlimmeres in diesen beiden Tagen erleben müssen. Ich habe Ihren Rücken gesehen, und Ihre… Nun ja, Ihre Wunden. Furchtbar, wenn ich das sagen darf.”

Sie nickte. “Ja. Aber ich will nicht darüber reden. Ich fühle mich besser als vorher, schon allein, weil die mich anscheinend gewaschen haben. Trotzdem.” Sie streckte sich und spürte, wie selbst die Muskeln in ihrem Gesicht weh taten, als sie es verzog. “Die Schmerzen sind noch immer da. Ich sollte schlafen.”

Vedian nickte und nahm das Buch wieder in seine Hand, sah kurz auf die Seiten, und legte es dann weg.

“Eigentlich lenkt mich das immer ab”, sagte er. “Lesen. Ich habe mir das Buch von einem anderen Verletzten geliehen, der da vorne liegt. Aber ich fliege nur über die Seiten, ohne wirklich zu merken, was da passiert.”

“Vielleicht ist es auch nur schlecht geschrieben”, warf sie ein.

Vedian lächelte.

“Nein”, sagte er. “Da ist etwas anderes.”

“Wie sollte es auch anders sein, nach den letzten Tagen”, entgegnete sie. Sie blickte kurz zu ihm rüber; er trug noch immer den Staub der Stadt in seinem Gesicht. Als sie mit den Fingern durch ihre Haare strich, merkte sie, dass sie endlich wieder trocken und sauber waren.

“So viel verloren”, murmelte sie und zerrieb ein schwarzes Haar zwischen ihren Fingern. Vedian nickte. Der Zug neigte sich in eine Kurve, und die alte Frau über ihr stöhnte auf. Im Bett über Vedian schnarchte jemand.

“Trinitas, der Mann, der den Bahnhof blockierte – er ist Geschichtsforscher, wie ich, und er wusste vom Angriff”, erzählte Vedian. “Er kam zu mir und brachte Beweise, doch es war zu spät. Minuten später begann der Beschuss. Vorher erzählte er mir noch, dass ich mit meiner Forschung Recht hätte. Doch was nützt mir das jetzt. Mein Lebenswerk hat jetzt keinen Wert mehr.”

“Buhuhu”, sagte Ancardia und lächelte, bereute es aber sofort. Jeder hatte etwas verloren, und sie fand nicht, dass es in ihrer Macht stand, über den Wert zu entscheiden.

“Nicht so bedeutsam im Vergleich zu einem Menschenleben”, erwiderte Vedian. “Aber wenn es stimmt, was Trinitas sagt, und irgendetwas sagt mir, dass er weiß, was in der Welt passiert, wenn es also stimmt und die Invasoren auch die anderen Städte Alâons angreifen, dann hat das, was ich all die Jahre gemacht habe, keinen Wert mehr.”

“Ich kann ein Lied davon singen”, murmelte sie und dachte im selben Moment daran, dass sie so eine Phrase niemals zu Papier bringen würde.

“Laut Trinitas kamen die Angreifer vom Götterkeil”, fuhr Vedian fort. “Das zeigte er mir. Sie leben dort vielleicht schon seit tausenden von Jahren. Sie sind Menschen – Vherendie hat einen von ihnen erschlagen, und sie legen anscheinend viel Wert auf diese seltsamen Steine, die sie mit sich tragen. Doch mehr weiß ich nicht. Ich weiß nicht, was sie in der Stadt wollen, und warum sie ausgerechnet jetzt auftauchen.”

“Wer weiß das schon”, schnaufte Ancardia. Sie blickte an die Decke des Wagens und dachte kurz an die Halle der Heldinnen, und an die Frau, die sie gesehen hatte. Erneut lief ein Schauer über ihren Rücken.

“Ich habe Ruinen unter Tharamant gefunden”, sprach sie und sah ihn an. “Ich stieg über einen Berg aus Knochen und sah uralte, schwarze Monumente, die bleiches Licht ausstrahlten und fließende Bilder zeigten. Das muss von Menschen kommen, die uns weit voraus waren.”

Vedian hob eine Augenbraue. Seine Augen leuchteten vom Kerzenlicht.

“Ja. Die Menschen scheinen älter zu sein, als ich angenommen habe – vielleicht sogar noch älter, als Sie gedacht haben”, sprach sie. “Vielleicht sind wir schon seit tausenden von Jahren auf diesem Planeten, bauen Städte, reißen sie wieder nieder, bauen alles wieder auf, werfen alles wieder um. Immer wieder, ohne Ende.”

Vedian nickte. Der Wagen wackelte, und Ancardia spürte, dass sie schlafen wollte. Ihr Rücken brannte, die Adern in ihren Beinen pumpten. Sie gähnte und sah Vedian an.

“Da ist aber etwas, das ich nicht verstehe”, brummte sie müde, nahm ihre Decke und zog sie nach oben. “Wenn es uns schon so lange gibt, warum haben wir nicht irgendetwas gelernt? Warum sind wir immer noch genauso zerstörerisch wie vor vielleicht schon vor… Ich weiß nicht, wie vielleicht vor zehntausend Jahren?”

Vedian zögerte keine Sekunde mit seiner Antwort.

“Weil wir Menschen sind”, sagte er und sah aus dem Fenster. “Und Menschen vergessen.”